Kategorien
Musik

Chinese Delivery

Vor zehn Tagen ist “Chinese Democracy” von Guns N’ Roses erschienen, ein Album der Superlative: 14 Jahre in der Mache, Gesamtkosten von geschätzt 13 bis 15 Millionen Dollar, mindestens sechs verschiedene Gitarristen.

Während angeblich bis zum Frühjahr dieses Jahres an “Chinese Democracy” gearbeitet wurde (was man angesichts des satten Neunziger-Sounds kaum glauben mag), lag ein anderes Album einfach neun Jahre lang auf Halde:

Am 26. Oktober 1999 sollte “Portable Life” erscheinen, das zweite Album von Danielle Brisebois. Deren Debütalbum “Arrive All Over You” von 1994 hatte sich trotz elf wunderbarer Powerpop-Songs kaum verkauft und die New Radicals, deren Bandmitglied Brisebois neben ihrem Songwritingpartner und Produzenten Gregg Alexander war, hatten sich nach ihrem weltweiten Megahit sofort wieder aufgelöst. Das Verhältnis zwischen den Plattenfirmen und allem, wo Brisebois/Alexander drauf stand, war also ein eher gespanntes. Warum RCA Records aber “Portable Life” nicht veröffentlichte, nachdem man schon Promo-Kopien an Musikjournalisten versandt und die Single “I’ve Had It” nebst Video fertiggestellt hatte, lässt sich bis heute nicht genau rekonstruieren.

So blieb das Album irgendwo liegen, während RCA als Teil von BMG zu SonyBMG fusionierte und Danielle Brisebois Hitsingles für Natasha Bedingfield und Kelly Clarkson schrieb. Bis zum 30. September dieses Jahres wusste niemand etwas genaueres über den Verbleib der zwölf Songs, zu denen auch “Everything My Heart Desires” (aus dem Soundtrack zu “Besser geht’s nicht”) und eine neue Version des “Arrive All Over You”-Songs “Just Missed The Train” gehörten — dann tauchte das Album plötzlich im iTunes Musicstore und als Download bei Amazon.com auf.

Man merkt dem Album seine lange Lagerzeit nicht unbedingt an: Es sind gute Popsongs, die mal mehr, mal weniger druckvoll, mal mehr, mal weniger melancholisch klingen. Manche haben großartige Titel wie “Stop It Hurts You’re Killing Me Don’t Stop” oder “If I Died Tonight You’d Have To Think Of Me” und insgesamt fragt man sich, warum Dido oder Kelly Clarkson eigentlich so einen riesigen Erfolg haben und Danielle Brisebois nicht.

Danielle Brisebois - Portable Life (Albumcover)
Danielle Brisebois – Portable Life

VÖ: 30. September 2008 / 26. Oktober 1999
Label: RCA Records
Vertrieb: SonyBMG (digital) / BMG Entertainment

Kategorien
Leben

Kurt Beck wird Kanzlerkandidat der SPD

Nennen Sie mich humorlos, aber ich hasse Aprilscherze. Ich werde jeden, der sich heute daran versucht, für mindestens 15 Minuten verachten.

Das liegt unter anderem an dem Trauma, das ich erlitt, als ich vor zehn Jahren feststellte, dass es den von der Filmzeitschrift “Cinema” angekündigten Director’s Cut von James Camerons “Titanic” (inkl. Gastauftritt von Arnold Schwarzenegger als Kellner) nie geben wird. Ich stand schon fast an der Kinokasse, als ich den “Witz” bemerkte.

Aprilscherze funktionieren nach dem Prinzip “Freude plus Fallhöhe”, bzw. “Ärger plus Fallhöhe”: Man erzählt eine Geschichte, bei der sich die Zuhörer auf etwas freuen, das nie kommen wird, oder sich über etwas ärgern, das nie stattgefunden hat. Kinder oder andere logisch denkende Wesen würden das “Lügen” nennen.

Als Chuck Klosterman heute vor zwei Jahren das ewig verschobene Guns-n’-Roses-Album “Chinese Democracy” rezensierte, war das schon irgendwie witzig, aber nicht halb so gut wie die letzte Woche angekündigte (offensichtlich ernst gemeinte) PR-Aktion von Dr Pepper zum Thema.

Wenn ich mir so ansehe, wie viel Mühe sich manche Medien mit der Vorbereitung ihres Aprilscherzes gegeben haben, dann weiß ich auch, wieso diese den Rest des Jahres über so schwach sind. Bei anderen würde eine weitere Falschmeldung gar nicht auffallen.

Allerdings muss ich der Fairness halber sagen, dass es zumindest immer mal wieder ein paar sehr liebevoll durchdachte Aprilscherze gab und vermutlich auch geben wird: Das WDR-“Zeitzeichen” brachte vor vielen Jahren einen Bericht über die Einführung von Sächsisch als Unterrichtsfach in der DDR und bei Spiegel Online einestages findet sich die schöne Geschichte aus dem “Guardian” von 1977 über die Entdeckung der Inselrepublik San Serriffe. Aber wenn ich auf die reingefallen wäre, hätte ich sie vermutlich auch doof gefunden.

Kategorien
Musik Digital

Brains N’ Blödsinns

Es ist ja nicht so, dass Fehler nur “Bild” oder “Spiegel Online” unterlaufen und immer gleich wahnsinnig schlimm sein müssen. Manchmal passieren sie auch Musikjournalisten, die Pressemitteilungen blind vertrauen und zu faul sind, in der Wikipedia nachzuschauen. Ich werde zum Beispiel nie ohne Nachzuschlagen den Namen des Bright-Eyes-Sängers korrekt schreiben können, aber deshalb guck ich ja auch immer wieder nach. “Brain Outsourcing” nennt man das, glaube ich.

So begann ich gestern einen Eintrag, in dem ich mich über den “visions.de-Newsflash” von Dienstag Abend lustig machen wollte. Darin hieß es, Sebastian Bach, der Ex-Sänger von Skid Row, werde am Freitag sein neues Soloalbum “Angel Down” veröffentlichen und auf dem Album werde Axl Rose auf drei Liedern zu hören sein.

Bis dahin war ja alles richtig, aber dann stand da:

Das Besondere daran: Es sind die ersten Aufnahmen, die seit 13 Jahren von Axl Rose veröffentlicht werden.

Dieser Satz ist natürlich falsch, war aber komplett aus der Pressemitteilung der Promo-Agentur rauskopiert. Von daher wollte ich die armen Online-Praktikanten bei visions.de jetzt auch nicht ausschimpfen.

Heute legten sie aber einen neuen “Newsflash” vor, in dem es plötzlich hieß:

Der Guns N’Roses-Frontmann ist dabei zum ersten Mal seit dem Jahr 1997 auf einer Aufnahme zu hören.

Jetzt wollte ich doch mal widersprechen, denn natürlich erschien 1999 “Oh My God”, der erste (und bis heute einzige) neue Guns-N’-Roses-Song, der nach “Use Your Illusion” veröffentlicht wurde.1 Und das ist weder dreizehn noch zehn, sondern acht Jahre her.

Aber dann fiel mir auf: Der Blödsinn war wieder nur kopiert – von bild.de. Die haben nämlich ein exklusives Prelistening zu “Angel Down” und überschreiben das so:

bild.de: “Hören Sie exklusiv in die neuen Songs von Axl Rose rein!”

Es folgt noch ein mittellanger Text, der sich vor allem beinahe ausschließlich um Axl Rose dreht und unter anderem folgendes behauptet:

Erst 1997 meldete er sich mit einem Song zum Schwarzenegger-Film „End of Days“ zurück, anschließend machte er sich an die Arbeit zum Album „Chinese Democracy“.

Das ist natürlich ziemlicher Unfug, denn “End Of Days” lief 1999 an und Rose arbeitet ungefähr seit 1994 an dem Album.

Die Aufnahmen zum Sebastian-Bach-Album haben nicht lange gedauert. Ein gutes oder ein schlechtes Omen?

Wohl vor allem ein Omen dafür, dass es schneller geht, bei drei Songs mitzusingen (und davon einen mitzuschreiben), als im Alleingang ein epochales Meisterwerk schaffen zu wollen.

Warum erwarte ich überhaupt, dass in einem bild.de-Artikel sinnvolle Sachen über Rockbands drinstehen? Guns N’ Roses scheinen ja mittlerweile so exotisch und vergessen, dass man nicht mal von einem Musikmagazin Fachkenntnisse erwarten kann.

1 Auf “The Spaghetti Incident?” waren ja ausschließlich Coverversionen, die zählen nicht als “neue Songs” und sind auch schon 14 Jahre alt.

Nachtrag 20:02 Uhr: Damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet:

Update 15:35 Uhr: Der Guns N’Roses-Frontmann ist dabei natürlich nicht zum ersten Mal seit dem Jahr 1997 auf einer Aufnahme zu hören, wie Bild dort fälschlich schreibt, sondern seit 1999, als er den Song “Oh My God” für den “End Of Days”-Soundtrack beisteuerte. Darauf machte uns das Blog Coffee And TV aufmerksam und erinnert uns daran, dass Fehler überalls passieren und man der Bild-Zeitung wirklich nie trauen darf.

(visions.de)

Allmachtsphantasien! Hahahahaha!

Kategorien
Musik Digital

Used To Laugh Here

Die wenigsten Witze werden komischer, wenn man sie ein zweites Mal hört. Kaum ein Witz, den man seit mehr als zehn Jahren kennt, bringt einen noch zum Lachen (Ausnahmen: Loriot, Monty Python, “Und täglich grüßt das Murmeltier”).

Seit mindestens dreizehn Jahren kündigt Axl Rose nun “Chinese Democracy” an, ein Album das – so es je erscheinen sollte – das vierte reguläre Studioalbum von Guns N’ Roses wäre. Und das teuerste Album, das die Welt je gesehen hat.

In der Zwischenzeit hat sich die Band, die einmal Guns N’ Roses war, bis auf Axl Rose komplett zerlegt, es wurden etwa zweiundvierzig Release Dates verkündet und wieder zurückgenommen, und möglicherweise wird sogar China eher zu einer Demokratie werden, als dieses Album erscheinen wird.

Witze über “Chinese Democracy” verbieten sich also schon deshalb, weil das Album bzw. die Geschichte darum selbst der größte Witz ist. Spätestens nach Chuck Klostermans Rezension des Albums in “Spin” (datiert vom 1. April 2006, bruhahaha) braucht man sich keine Mühe mehr zu geben, irgendetwas humoristisches mit dem Album anzustellen. Es ist alles gesagt.

Gestern meldete visions.de, bei Amazon.co.uk könne man das Album inzwischen vorbestellen, es werde am 12. Februar 2008 veröffentlicht. Auch bei Amazon.de sei das Album bereits zu ordern, dort ist die Veröffentlichung allerdings auf den 31. Dezember 2025 terminiert.

Was haben wir gelacht.

P.S.: Ich bin einer dieser Irren, die glauben, dass “Chinese Democracy” tatsächlich eines Tages noch veröffentlicht werden wird. Und entweder wird es dann gequirlte Kacke, was bei geschätzten 13 Millionen Dollar Produktionskosten (bisher) aber auch Stil hätte, oder es wird ein verdammtes Meisterwerk. Ich bin und bleibe gespannt.

Kategorien
Literatur

IV For Pop Culture

Chuck Klosterman IV (Cover der gebundenen Ausgabe)Manchmal neige ich zu sehr wohlwollenden Zukunftsprognosen. An diesem Eintrag war deshalb nahezu alles falsch: Das bestellte Buch kam nicht (wie wir inzwischen wissen) am darauffolgenden Montag an, sondern konnte erst nach einer Woche aus seiner Gefangenschaft befreit werden. Auch brauchte ich für die Lektüre nicht die veranschlagte eine Woche, sondern derer drei.

Jetzt aber: “Chuck Klosterman IV: A Decade of Curious People and Dangerous Ideas” ist (wie der Titel schon nahelegt) das vierte Buch von Chuck Klosterman. Chuck Klosterman ist ein amerikanischer Musik-, Film- und Popkulturjournalist, der lange Jahre für das “Spin Magazine”, aber auch für “Esquire”, das “New York Times Magazine” und diverse andere Druckerzeugnisse gearbeitet hat. Ich kam mit seiner Arbeit erstmals bewusst in Kontakt, als der deutsche “Rolling Stone” im vergangenen Jahr das Kapitel über Kurt Cobain aus dem damals frisch auf deutsch erschienenen Klosterman-Buch “Eine zu 85% wahre Geschichte abdruckte. Das Buch heißt im Original “Killing Yourself To Live” (“85% Of A True Story” ist der Untertitel, sooo abwegig ist deutsche Variante dann doch nicht) und Klosterman reist darin durch die halben USA und klappert dabei Orte ab, an denen Rockstars zu Tode gekommen sind.

Als ich ein paar Monate später bei Borders in San Francisco stand und mich nicht entscheiden konnte, mit welchem Buch ich als nächstes meine Kreditkarte belasten sollte, fiel mir “Killing Yourself To Live” in die Hände. Ich kaufte es, las es in einer Woche durch1 und wurde Fan. In den nächsten Wochen kaufte ich mir nacheinander “Sex, Drugs and Cocoa Puffs”, eine Artikel- und Essaysammlung über Popkultur im weiteren Sinne, und “Fargo Rock City”, ein Buch über Heavy Metal, Hardrock und Landleben, das sehr spät meine Begeisterung für die Musik von Guns N’ Roses weckte.

“Chuck Klosterman IV” war im letzten Herbst schon als Hardcover erschienen, aber ich wollte es zwecks besserer Optik im Bücherregal gerne ebenfalls als Taschenbuch haben.2 Dafür hab ich jetzt auch ein paar zusätzliche Essays und Fußnoten mit drin, die bei der Erstveröffentlichung teilweise noch gar nicht geschrieben waren. Essays und Fußnoten gibt es in dem Buch eine ganze Menge, denn es vereint – wie der Untertitel schon andeutet – Texte aus zehn Jahren und ist in drei Teile gegliedert: “Things that are true”, “Things that might be true” und “Something that isn’t true at all”.

“Things that are true” sind Porträts über Musiker wie Britney Spears, U2, Radiohead, Wilco oder Billy Joel, aber auch Reportagen über The-Smiths-Fantreffen voller Latinos, Goths in Disneyland und eine einwöchige Chicken-McNuggets-Diät (acht Jahre vor “Super Size Me”). Klosterman hat ihnen kleine Einführungen vorangestellt, die mitunter mindestens so unterhaltsam und erhellend sind wie die Artikel selbst. Er bemüht sich, seine Themen und Porträtierten ernst zu nehmen (sogar Britney Spears) und beschreibt Szenen, Gespräche und Ereignisse mit einem unglaublichen Gespür für Sprache und Komik. Dabei kommt es ihm sehr zu Gute, dass angelsächsischer Journalismus (im Gegensatz zum deutschen) dem Verfasser eine eigene Position und sogar ein Ich zugesteht. Statt umständlicher Konstruktionen kann er somit ganz persönliche Eindrücke bringen, die viel aussagekräftiger sind als es die Vortäuschung von Objektivität je wäre. Fast nie erhebt er sich über den Gegenstand, nur Europäer und Soccer sind Themen, bei denen er schnell emotional wird.

“Things that might be true” vereint zahlreiche “Esquire”-Kolumnen zu eher abstrakten Gedanken. Er jongliert mit kulturtheoretischen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen, was ihm meistens sehr gut gelingt, worin er sich mitunter aber auch ein wenig verheddert. Diese Texte regen aber, mehr als die aus Teil Eins, zum Nachdenken an und ich bin mir sicher, dass sie an amerikanischen Unis bereits Gegenstand einiger Seminare und Hausarbeiten sind. Ihnen vorangestellt ist je eine (mitunter höchst hypothetische Frage), die den Leser schon mal an den Rand des Wahnsinns bringen kann. Beispiel gefällig?

Q: Think of someone who is your friend (do not select your best friend, but make sure the person is someone you would classify as “considerably more than an acquaintance”).
 This friend is going to be attacked by a grizzly bear.
 Now, this person will survive this bear attack; that is guaranteed. There is a 100 percent chance that your friend will live. However, the extent of his injuries is unknown; he might receive nothing but a few superficial scratches, but he also might lose a lim (or multiple limbs). He might recover completely in twenty-four hours with nothing but a great story, or he might spend the rest of his life in a wheelchair.
 Somehow, you have the ability to stop this attack from happening. You can magically save your friend from the bear. But his (or her) salvation will come at a peculiar price: if you choose to stop the bear, it will always rain. For the est of your life, wherever you go, it will be raining. Sometimes it will pour and sometimes it will drizzle – but it will never not be raining. But it won’t rain over the totality of the earth, nor will the hydrological cycle be disrupted; these storm clouds will be isolated, and they will focus entirely on your specific whereabouts. You will never see the sun again.
 Do you stop the bear and accept a lifetime of rain?

Also bitte, wie brillant ist denn sowas?

“Things that aren’t true at all” enthält eine etwa dreißigseitige Kurzgeschichte über einen jungen Filmkritiker, dem einige ziemlich abgefahrene3 Sachen passieren. Die Geschichte ist gut geschrieben, mit der Klosterman-üblichen Liebe zu ausgefallenen Details und sie ist nur etwa dreißig Seiten lang. Viel mehr positives lässt sich darüber nicht sagen, sie ist halt “ganz nett”, aber ihr Fehlen hätte für das Buch keinen großen Makel bedeutet.

Wenn Sie sich jetzt seit ungefähr dem zweiten Absatz fragen, ob Chuck Klosterman “sowas wie der amerikanische Benjamin von Stuckrad-Barre” sei: Schwer zu sagen. Beide beherrschen ihr Handwerk sicherlich sehr gut, aber es gibt schon deutliche Unterschiede, die ganz profan bei der Sprache anfangen (ich liebe dieses Formelhafte der englischen Sprache, ihre idiomatischen Wendungen und die zahlreichen Möglichkeiten, sich vom Beschriebenen zu distanzieren) und bei der Einstellung der Autoren gegenüber ihren Inhalten aufhören.

“Chuck Klosterman IV” ist für alle, die sich für Popkultur im weiteren Sinne (und für amerikanische Massenkultur) interessieren, die gerne gut geschriebene Porträts und Reportagen lesen und sich für etwas abseitige Gedankengänge erwärmen können. Und für kuriose Leute.

1 Es ist bedeutend dünner als das neue Buch (257 zu 416 Seiten).
2 Ironie der Geschichte: Die Bücher stehen gar nicht bei mir im Regal. Das ist nämlich voll. Sie liegen jetzt auf einer Reihe stehender Bücher und werden noch dazu von einer Borussia-Mönchengladbach-Flagge verdeckt.
3 Demnächst an dieser Stelle: Die zehn schönsten Achtziger-Jahre-Adjektive.

Kategorien
Musik

Listenpanik (5): I Killed The Zeitgeist

Wenn ich mir die bisherigen Monatsbestenlisten so anschaue, fällt mir auf, wie viele Sachen ich gerne noch ergänzen würde. Auch wenn die logische Reaktion darauf wäre, die Aktion einfach abzublasen, stürze ich mich trotzdem mit Elan in die Veröffentlichungen des Monats Juli. Wie immer streng subjektiv und ohne den Hauch eines Anspruchs auf Vollständigkeit:

Alben (inkl. Amazon.de-Links)
1. Justice – †
Es müsste schon mit dem Teufel (oder Gevatter Tod) zugehen, wenn es dieses Jahr noch einen heißeren Act als Justice gäbe, the French electronic duo who does what French electronic duos should do. Natürlich kommt man um die Vergleiche zu Daft Punk und Air kaum herum, aber das sind ja beides Acts aus dem letzten Jahrtausend. Zugegeben: “†” hätte auch schon vor zehn Jahren erscheinen können. Ist es aber nicht und genau deshalb sticht dieses House-Album trotz Rave-Revival im Sommer 2007 so aus der Masse heraus. Vielleicht wird uns das alles in einem Jahr schon wieder egal sein, aber im Moment heißt’s erst mal: “Do the D.A.N.C.E. / 1, 2, 3, 4, fight”.

2. Tocotronic – Kapitulation
Wer dachte, dass Tocotronic gar nicht mehr besser werden könnten, als auf “Pure Vernunft darf niemals siegen”, muss zugeben, sich geirrt zu haben. Wenn jede Band nach 14 Jahren Bandgeschichte auf dem achten Album so klänge, wüsste man ja kaum noch, wohin mit all den guten Alben. Dirk von Lowtzow hat mit ungefähr jedem Medium der Republik sprechen müssen, hat dabei unzählige Male die Schönheit des Wortes “Kapitulation” erklärt, aber sobald die ersten Takte von “Mein Ruin” erklingen, ist das alles egal. Wie schon vor zwei Jahren mit “Aber hier leben, nein danke” sind die Tocos auch in diesem Jahr mit ihrem Aufruf zur “Kapitulation” völlig gegen den Strich und genau das macht diese Band so wertvoll.

3. Smashing Pumpkins – Zeitgeist
Jetzt sind sie also wieder da, die Smashing Pumpkins. Oder besser: Billy Corgan und Jimmy Chamberlin. Nach Corgans desaströsem Soloalbum und ohne die Hälfte der eigentlichen Band konnte man ja fast nur noch mit dem schlimmsten rechnen, weswegen schon ein knapp überdurchschnittliches Album eine Sensation gewesen wäre. “Zeitgeist” ist aber noch besser: Es ist nach “Siamese Dream” und “Adore” mal wieder ein problemlos durchhörbares Pumpkins-Album und es ist die große “Look who’s back”-Geste. Klanglich könnte auf einigen Songs auch Zwan draufstehen und natürlich sind die meisten Nummern weit von “Today”, “Tonight, Tonight” und “1979” entfernt, aber es dürfte kaum jemand erwartet haben, dass Corgan noch einmal zu solchen Großtaten in der Lage ist. Aber “Zeitgeist” hat “Doomsday Clock”, “Bleeding The Orchid”, “Starz” und “United States” auf der Habenseite, über alles andere diskutieren wir nach der Veröffentlichung von “Chinese Democracy”.

4. The Electric Soft Parade – No Need To Be Downhearted
Die Gebrüder White aus Brighton haben sich mal wieder in ihrem ehemaligen Kinderzimmer eingeschlossen und definieren, wie Indiepop im Sommer 2007 klingt: locker-flockig, mit gelegentlichen Ausflügen ins Verschrobene und Ausufernde. Ein Ritt durch die letzten vierzig Jahre Musikgeschichte und doch eindeutig The Electric Soft Parade.

5. Spoon – Ga Ga Ga Ga Ga
Musikjournalismus für Anfänger: “Wer sein Album so nennt, muss ja schon ziemlich gaga sein.”
Musik für Fortgeschrittene: Auf ihrem sechsten Album spielen Spoon aus Austin, Texas ihren dezent verschrobenen Indierock genau auf den Punkt. Zehn Songs in 36 Minuten, das ist fast wie Weezer, nur nicht ganz so eingängig: Bis Melodien hängen bleiben, muss man “Ga Ga Ga Ga Ga” schon einige Male gehört haben, in Verzückung versetzt einen die Musik aber von Anfang an. Wer sehnsüchtigst aufs neue Eels-Album wartet, kann Spoon so lange als Ersatz hören – alle anderen natürlich auch.

Singles (inkl. iTunes-Links)
1. Smashing Pumpkins – Doomsday Clock
Billy Corgan allein wird wissen, ob das jetzt eine (Download-)Single ist oder nicht, aber es ist auch egal: “Doomsday Clock” ist genau der Opener, auf den man sieben Jahre gewartet hat. Jimmy Chamberlin haut ein bisschen auf den Fellen rum, dann legen die Gitarren los und Billy Corgan singt die Nummer nach hause: “Please don’t stop / It’s lonely at the top”. Der Mann weiß wovon er singt, er war schon mal ganz oben. Aber alleine war er eigentlich überall.

2. Black Rebel Motorcycle Club – Berlin
Album übersehen, dann wenigstens die Single würdigen: BRMC haben den Blues-Anteil nach “Howl” wieder zurückgefahren, aber “Berlin” klingt immer noch ausreichend nach Amerika, Wüstensand und Bärten. Wie das zum Titel passen soll, ist wohl eine berechtigte Frage, die ich aber einfach im Raum stehen lassen möchte, weil sie mir dort ideal Schatten spendet.

3. Herbert Grönemeyer – Kopf hoch, tanzen
Dass “Zwölf” ein irgendwie tolles Album ist, hatte ich ja schon mal versucht auszudrücken. Damals vergaß ich aber irgendwie, diesen Song hervorzuheben. Das Sensationelle daran: 2007 klingt Grönemeyer für einen Song mehr nach den Achtzigern, als er es in den meisten seiner Achtziger-Jahre-Songs je getan hat. Dazu ein Text, der wieder alles und nichts bedeuten kann, und ein wunderbares Video.

4. The Electric Soft Parade – Misunderstanding
Die Sechziger Jahre waren lange vorbei, als Alex und Tom White geboren wurden. Trotzdem klingt “Misunderstanding” nach Beach Boys und Kinks – oder genauer: so, wie diese Bands heute klingen würden. Twang, twang, schunkel, schunkel!

5. Feist – 1234
Musik im Sommer 2007 sollte sowohl bei strahlendem Sonnenschein, als auch bei tagelangem Regen funktionieren. Voilà: “1234” von Feist eignet sich da bestens zu. Indiefolk mit dezenten Country-Einflüssen oder irgendwie sowas, dazu diese Stimme. Das dazugehörige Album hatte ich übrigens im April übersehen.

Außer Konkurrenz: The Rolling Stones – Paint It, Black
Nach “Should I Stay Or Should I Go” (Jeans) und “Paranoid” (Tankstelle) jetzt der nächste Rock-Klassiker, dem das Werbefernsehen (Telefongedöns) zu einem Comeback verhilft. Und nach dem Neptunes-Remix von “Sympathy For The Devil” schon der zweite Kontakt der Nuller Jugend mit der Band, die ihre Großväter sein könnten. Aber der Song ist nun mal auch nach 41 Jahren noch der blanke Wahnsinn.