Dass ich das noch erleben darf: Die „Süddeutsche Zeitung“ (oder wenigstens deren Magazin) haut eine Bildergalerie raus, die sogar mal sinnvoll und unterhaltsam ist. Rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse wird dem literaturinteressierten Zeitungsleser eine Hilfe an die Hand gegeben, um verschiedene, viel zu oft verwechselte Autoren auseinanderhalten zu können: z.B. Benjamin Lebert und Benjamin von Stuckrad-Barre; Jonathan Franzen, Jonathan Safran Foer und Jonathan Lethem; Martin Walser und Robert Walser.
Kategorie: Literatur
Alles, was mit Büchern zu tun hat.
Buchstabensuppe

Morgen geht die Frankfurter Buchmesse wieder los, was man schon daran merkt, dass die Sonderbeilagen der großen Zeitungen so dick sind wie die Samstagsausgaben der kleinen Zeitungen. Die Kulturjournalisten der Fernsehanstalten haben ihre obskuren Sitzmöbel, auf denen sie namhafte Schriftsteller und Susanne Fröhlich zu befragen gedenken, sicher längst in Stellung gebracht. An den Publikumstagen werden sich unendlich lange Schlangen bilden und für ein paar Tage stehen auch mal diejenigen im Mittelpunkt, an denen man in der Fußgängerzone einfach vorbeigehen würde: die Autoren.
Schon stellt sich wieder die Frage, wer das denn bitteschön alles lesen solle. Die Antwort ist einfach, zumindest wenn es nach Pierre Bayard geht: niemand. Der französische Literaturprofessor hat ein Buch geschrieben, das es sich zu lesen lohnt: „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“. Der Titel ist etwas sperrig, hat aber andererseits den Vorteil, ziemlich genau zusammenzufassen, worum es in dem Buch geht.
Ich glaube ja sowieso, dass die wenigsten Bücher, die gekauft werden, auch gelesen werden. Das gilt insbesondere für Bestseller. Und ganz besonders für die Bücher von Bastian Sick. Bayard plädiert deshalb für einen entspannteren Umgang mit nicht gelesenen Büchern: Ob auf Cocktailparties oder in der Universität, überall wird man in Gespräche über Bücher verwickelt, die man oft genug nicht gelesen hat. Da jeder aber andere Informationen aus einer Lektüre mitnehme und man vieles, das man gelesen habe, eh wieder vergesse, hält Bayard es für relativ egal, ob man das diskutierte Buch überhaupt gelesen hat oder nicht. Im Gegenteil: Besonders angeregte Gespräche finden seines Erachtens nicht selten zwischen Personen statt, die den Gesprächsgegenstand beide nicht kennen.
Anhand von unterhaltsamen Anekdoten aus verschiedenen Romanen, von denen Bayard in den Fußnoten meist zugibt, sie selbst nicht gelesen zu haben, erstellt er eine Art „Geschichte des Nichtlesens“ und gibt so zumindest indirekt Tipps, wie man auch ahnungslos bestehen kann. Er ermutigt seine Leser aber auch dazu, offen zu ihren Bildungslücken zu stehen.
Als Literaturwissenschaftler müsste man dieses Buch eigentlich hassen: Zum einen deckt es brutal auf, dass wir die wenigsten Bücher, über die wir sprechen und schreiben, überhaupt (vollständig) gelesen haben, zum anderen ermutigt es auch noch Andere zum gleichen Verhalten. Andererseits: Was spricht dagegen, sich mithilfe von Sparksnotes oder der Wikipedia einen Überblick über Bücher zu verschaffen, die man eh nie lesen wird? Man erlaubt sich ja auch Urteile über Filme, von denen man nur den Trailer gesehen hat, oder beurteilt ein Album nach seiner Single.
Lassen Sie es mich also so ausdrücken: Die Lektüre von Bayards Buch lohnt in jedem Falle (die vieler anderer Bücher im Übrigen auch). Es spricht wenig dagegen, in Gesprächen über Bücher, die man nicht gelesen hat, heftig zu nicken und die zwei Informationen, die man darüber kennt, einzustreuen. Vielleicht ist das Gespräch ja so erhellend, dass man das Buch hinterher doch noch liest. Wohl sollte man aber besser nicht von sich aus das Gespräch auf Bücher lenken, von denen man keine Ahnung hat. Das könnte doch schnell peinlich werden.
IV For Pop Culture
Manchmal neige ich zu sehr wohlwollenden Zukunftsprognosen. An diesem Eintrag war deshalb nahezu alles falsch: Das bestellte Buch kam nicht (wie wir inzwischen wissen) am darauffolgenden Montag an, sondern konnte erst nach einer Woche aus seiner Gefangenschaft befreit werden. Auch brauchte ich für die Lektüre nicht die veranschlagte eine Woche, sondern derer drei.
Jetzt aber: „Chuck Klosterman IV: A Decade of Curious People and Dangerous Ideas“ ist (wie der Titel schon nahelegt) das vierte Buch von Chuck Klosterman. Chuck Klosterman ist ein amerikanischer Musik‑, Film- und Popkulturjournalist, der lange Jahre für das „Spin Magazine“, aber auch für „Esquire“, das „New York Times Magazine“ und diverse andere Druckerzeugnisse gearbeitet hat. Ich kam mit seiner Arbeit erstmals bewusst in Kontakt, als der deutsche „Rolling Stone“ im vergangenen Jahr das Kapitel über Kurt Cobain aus dem damals frisch auf deutsch erschienenen Klosterman-Buch „Eine zu 85% wahre Geschichte abdruckte. Das Buch heißt im Original „Killing Yourself To Live“ („85% Of A True Story“ ist der Untertitel, sooo abwegig ist deutsche Variante dann doch nicht) und Klosterman reist darin durch die halben USA und klappert dabei Orte ab, an denen Rockstars zu Tode gekommen sind.
Als ich ein paar Monate später bei Borders in San Francisco stand und mich nicht entscheiden konnte, mit welchem Buch ich als nächstes meine Kreditkarte belasten sollte, fiel mir „Killing Yourself To Live“ in die Hände. Ich kaufte es, las es in einer Woche durch1 und wurde Fan. In den nächsten Wochen kaufte ich mir nacheinander „Sex, Drugs and Cocoa Puffs“, eine Artikel- und Essaysammlung über Popkultur im weiteren Sinne, und „Fargo Rock City“, ein Buch über Heavy Metal, Hardrock und Landleben, das sehr spät meine Begeisterung für die Musik von Guns N‘ Roses weckte.
„Chuck Klosterman IV“ war im letzten Herbst schon als Hardcover erschienen, aber ich wollte es zwecks besserer Optik im Bücherregal gerne ebenfalls als Taschenbuch haben.2 Dafür hab ich jetzt auch ein paar zusätzliche Essays und Fußnoten mit drin, die bei der Erstveröffentlichung teilweise noch gar nicht geschrieben waren. Essays und Fußnoten gibt es in dem Buch eine ganze Menge, denn es vereint – wie der Untertitel schon andeutet – Texte aus zehn Jahren und ist in drei Teile gegliedert: „Things that are true“, „Things that might be true“ und „Something that isn’t true at all“.
„Things that are true“ sind Porträts über Musiker wie Britney Spears, U2, Radiohead, Wilco oder Billy Joel, aber auch Reportagen über The-Smiths-Fantreffen voller Latinos, Goths in Disneyland und eine einwöchige Chicken-McNuggets-Diät (acht Jahre vor „Super Size Me“). Klosterman hat ihnen kleine Einführungen vorangestellt, die mitunter mindestens so unterhaltsam und erhellend sind wie die Artikel selbst. Er bemüht sich, seine Themen und Porträtierten ernst zu nehmen (sogar Britney Spears) und beschreibt Szenen, Gespräche und Ereignisse mit einem unglaublichen Gespür für Sprache und Komik. Dabei kommt es ihm sehr zu Gute, dass angelsächsischer Journalismus (im Gegensatz zum deutschen) dem Verfasser eine eigene Position und sogar ein Ich zugesteht. Statt umständlicher Konstruktionen kann er somit ganz persönliche Eindrücke bringen, die viel aussagekräftiger sind als es die Vortäuschung von Objektivität je wäre. Fast nie erhebt er sich über den Gegenstand, nur Europäer und Soccer sind Themen, bei denen er schnell emotional wird.
„Things that might be true“ vereint zahlreiche „Esquire“-Kolumnen zu eher abstrakten Gedanken. Er jongliert mit kulturtheoretischen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen, was ihm meistens sehr gut gelingt, worin er sich mitunter aber auch ein wenig verheddert. Diese Texte regen aber, mehr als die aus Teil Eins, zum Nachdenken an und ich bin mir sicher, dass sie an amerikanischen Unis bereits Gegenstand einiger Seminare und Hausarbeiten sind. Ihnen vorangestellt ist je eine (mitunter höchst hypothetische Frage), die den Leser schon mal an den Rand des Wahnsinns bringen kann. Beispiel gefällig?
Q: Think of someone who is your friend (do not select your best friend, but make sure the person is someone you would classify as „considerably more than an acquaintance“).
This friend is going to be attacked by a grizzly bear.
Now, this person will survive this bear attack; that is guaranteed. There is a 100 percent chance that your friend will live. However, the extent of his injuries is unknown; he might receive nothing but a few superficial scratches, but he also might lose a lim (or multiple limbs). He might recover completely in twenty-four hours with nothing but a great story, or he might spend the rest of his life in a wheelchair.
Somehow, you have the ability to stop this attack from happening. You can magically save your friend from the bear. But his (or her) salvation will come at a peculiar price: if you choose to stop the bear, it will always rain. For the est of your life, wherever you go, it will be raining. Sometimes it will pour and sometimes it will drizzle – but it will never not be raining. But it won’t rain over the totality of the earth, nor will the hydrological cycle be disrupted; these storm clouds will be isolated, and they will focus entirely on your specific whereabouts. You will never see the sun again.
Do you stop the bear and accept a lifetime of rain?
Also bitte, wie brillant ist denn sowas?
„Things that aren’t true at all“ enthält eine etwa dreißigseitige Kurzgeschichte über einen jungen Filmkritiker, dem einige ziemlich abgefahrene3 Sachen passieren. Die Geschichte ist gut geschrieben, mit der Klosterman-üblichen Liebe zu ausgefallenen Details und sie ist nur etwa dreißig Seiten lang. Viel mehr positives lässt sich darüber nicht sagen, sie ist halt „ganz nett“, aber ihr Fehlen hätte für das Buch keinen großen Makel bedeutet.
Wenn Sie sich jetzt seit ungefähr dem zweiten Absatz fragen, ob Chuck Klosterman „sowas wie der amerikanische Benjamin von Stuckrad-Barre“ sei: Schwer zu sagen. Beide beherrschen ihr Handwerk sicherlich sehr gut, aber es gibt schon deutliche Unterschiede, die ganz profan bei der Sprache anfangen (ich liebe dieses Formelhafte der englischen Sprache, ihre idiomatischen Wendungen und die zahlreichen Möglichkeiten, sich vom Beschriebenen zu distanzieren) und bei der Einstellung der Autoren gegenüber ihren Inhalten aufhören.
„Chuck Klosterman IV“ ist für alle, die sich für Popkultur im weiteren Sinne (und für amerikanische Massenkultur) interessieren, die gerne gut geschriebene Porträts und Reportagen lesen und sich für etwas abseitige Gedankengänge erwärmen können. Und für kuriose Leute.
1 Es ist bedeutend dünner als das neue Buch (257 zu 416 Seiten).
2 Ironie der Geschichte: Die Bücher stehen gar nicht bei mir im Regal. Das ist nämlich voll. Sie liegen jetzt auf einer Reihe stehender Bücher und werden noch dazu von einer Borussia-Mönchengladbach-Flagge verdeckt.
3 Demnächst an dieser Stelle: Die zehn schönsten Achtziger-Jahre-Adjektive.
Juchuh, es ist soweit: Amazon meldet Vollzug und am Montag sollte es endlich in meinem Briefkasten liegen. Wie lange hab ich darauf gewartet. Und natürlich schön auf Englisch, weil es noch ewig dauern kann, bis das auf Deutsch erscheint und ich die anderen Bücher auch auf Englisch hab und ich Bücher sowieso viel lieber im Original (also auf Englisch, in der einzigen Fremdsprache, die ich beherrsche) lese.
Wie, „das erscheint doch erst in zwei Wochen“? Das ist doch längst raus. Was? Nein, wen interessiert denn so ein doofer Zauberlehrling? Ich rede von „Chuck Klosterman IV: A Decade of Curious People and Dangerous Ideas“, das jetzt endlich als Taschenbuchausgabe auf dem Weg zu mir ist.
Eine ausführliche Besprechung folgt, wenn ich es durch habe. Also in hoffentlich einer Woche.
Don’t Panic!
Heute (25. Mai) ist Towel Day. Bitte achten Sie – noch gründlicher als sonst – darauf, ein Handtuch bei sich zu führen.
Maik Söhler bespricht in der Netzeitung das Buch „Pop seit 1964“ von Kerstin Gleba und Eckhard Schumacher und versteigt sich dabei in die Behauptung, Blogs seien doch heutzutage Popliteratur im eigentlichen Sinne:
«Lieber geil angreifen, kühn totalitär roh kämpferisch und lustig, so muss geschrieben werden», meint Rainald Goetz in seinem Text «Subito». Ja! Genauso schreibt doch Don Alphonso in seinen besten Einträgen in der Blogbar. Und nochmal Goetz: «Gehe weg, du blöder Sausinn, ich will von dir Dummem Langweiligen nie nichts wissen.» Das trifft auf viele Blogs zu – ob sie wie «Melancholie Modeste» oder «Vigilien» nun explizit literarisch sind oder wie Bov Bjergs oder Felix Schwenzels Blog einfach nur hübsch verstrahlt.
Kennzeichnet Diedrich Diederichsens aus den achtziger Jahren stammender Satz, Pop sei die «letzte Instanz der Wahrheit» nicht exakt das Bildblog? Trifft Andreas Neumeisters Bestimmung der «Gegenwart als Alles» nicht das Grundverständnis tausender Newsblogs? Spiegelt Benjamin von Stuckrad-Barres Äußerung, «man ist schon woanders, wenn die noch die Messer wetzen», nicht genau das Verhältnis von Bloggern zu den etablierten Medien, wenn diese sich mal wieder verständnislos das Phänomen des Bloggens vornehmen?
Supergedanke, eigentlich. Steht nicht auch der Umstand, dass sich die Blogosphäre eher über technische denn über inhaltliche Gemeinsamkeiten definiert, in der Tradition eines Marshall McLuhan mit seiner These „The medium is the message“? Okay, so ganz neu ist der Gedanke nicht, aber schon in gewisser Weise nachvollziehbar.
Allein: Wenn man im Internet (noch dazu in Deutschlands einziger Internettageszeitung) in einem Artikel über Blogs und Blogger schreibt, von denen man auch noch sechs namentlich erwähnt, warum in Dreiteufelsnamen ist dann auch hier KEIN EINZIGES Blog verlinkt? Und warum führt der einzige Link im Fließtext ausgerechnet zu den „etablierten Medien“, nämlich zu diesem Artikel in der FAS?
Heute ist der Welttag des Buches. Aus diesem Anlass hier eine Liste mit den schönsten, wichtigsten, belesensten Literatur-Songs. Wie immer so unvollständig wie mein Gedächtnis:
- Muff Potter – Bis zum Mond
- Nirvana – Scentless Apprentice (über „Das Parfüm“ von Patrick Süßkind)
- Maxïmo Park – Russian Literature
- Kashmir – Small Poem Of Old Friend
- Manic Street Preachers – The Girl Who Wanted To Be God (nach einem Zitat von Sylvia Plath)
- Ryan Adams – Sylvia Plath
- Jupiter Jones – Reiß die Trauer aus den Büchern
- The Beatles – Paperback Writer
- Elton John – Goodbye Yellow Brick Road (bezieht sich auf „The Wizard Of Oz“)
- Love – My Little Red Book
- Simon & Garfunkel – Bookends
- Modest Mouse – Bukowski
- The Weakerthans – Our Retired Explorer (Dines With Michel Foucault In Paris, 1961)
- The Ataris – If You Really Wanna Hear About It … (erste Zeile aus „The Catcher In The Rye“)
- Piebald – Holden Caulfield (benannt nach der Hauptfigur ebenda)
- Babyshambles – À Rebours (benannt nach einem Roman von Joris-Karl Huysmans)
- Tocotronic – Gegen den Strich (benannt nach dem deutschen Titel des Huysmans-Romans)
- Black Rebel Motorcycle Club – Howl (benannt nach dem berühmten Beatgedicht von Allen Ginsberg)
- Smashing Pumpkins – Soma (benannt nach der Droge in „Brave New World von Aldous Huxley)
Und hier der große Alice-im-Wunderland-Zugabenblock:
- The Sisters Of Mercy – Alice
- Elton John – Mona Lisa And Mad Hatters
- Aimee Mann – Humpty Dumpty
- Jefferson Airplane – White Rabbit
- Symphony X – Through The Looking Glass
- Travis – The Humpty Dumpty Love Song
- Bright Eyes – Down In A Rabbit Hole
„Morgen ist es wieder soweit: es wird übermorgen sein.“
Dieser nur auf den ersten Blick etwas abwegige Gedanke kam mir heute Morgen, während ich im Bett darauf wartete, dass ich mich dazu aufrappeln könnte, selbiges zu verlassen. Heute Nacht erleben wir den seltensten Tag des Jahres. Nicht! Rund 55.000 Tausend Menschen in Deutschland und vier Millionen weltweit werden mal wieder ihren Geburtstag nicht feiern können, denn sie wurden am 29. Februar geboren, dem Tag, den es nur alle vier Jahre gibt (außer in Jahren, die ohne Rest durch 100 teilbar sind – es sei denn, sie sind ohne Rest durch 400 teilbar, dann handelt es sich wieder um ein Schaltjahr mit 29. Februar).
Und wie ich mich in diesen Gedanken verlor, fiel mir auf, dass es in weniger als vier Wochen zum nächsten Zeitraub kommen wird. Gut, in der Nacht zum 25. März wird uns nur eine Stunde geklaut (und die bekommen wir im Oktober auch noch wieder), aber einmal in Fahrt, sah ich mich schon mit dem nächsten Einfall konfrontiert: „Gut, dass es im 16. Jahrhundert noch keine Zeitumstellung gab. Man stelle sich mal vor, Shakespeare hätte Romeo und Julia nicht über Nachtigallen und Lerchen diskutieren lassen, sondern darüber, ob die Uhr (die es in der uns heute bekannten Form damals natürlich auch noch nicht gab) nun eine Stunde vor- oder zurückzustellen sei. Die ganze romantische Stimmung dieser Szene, ja: des Dramas wäre dahin gewesen und wer weiß, ob Shakespeare heute noch den bedeutendsten Dichtern aller Länder, Epochen und Literaturgattungen zuzurechnen wäre. So können einen der vermeintliche Fortschritt und gesetzlich verordnete Tageszeiten schnell den erhofften Platz in der Weltgeschichte kosten …“
In diesem Augenblick wusste ich: egal, wie spät es gerade ist, ich sollte besser aufstehen.
Die Frage, was eigentlich typisch deutsch sei, ist sicherlich bedeutend älter als die Bundesrepublik und nicht selten wird als Antwort gegeben, eben so eine Frage sei typisch deutsch. Wer von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückkehrt, wird bei seinen Landsleuten eine umfangreiche Sammlung andernorts nicht vorgefundener Marotten entdecken (ich persönlich würde „Rauchen wie ein Schlot“ und „ständiges Meckern“ nennen, sowie das schlechte Wetter, was aber nicht an den Leuten selbst liegt). Wer gar als Ausländer nach Deutschland kommt, wird einen sehr eigenen Blick auf das Land und seine Menschen haben und wenn dieser Blick gut geschärft ist und der Blicker ein Buch darüber schreibt, dann ist klar, dass ich das lesen muss.
Eric T. Hansen wuchs auf Hawaii auf, kam als Mormonenmissionar nach Deutschland und schwor als erstes seinem Missionarentum ab. Stattdessen beschäftigte er sich ausgiebig mit der deutschen Geschichte, Literatur und Gesellschaft. Sein Buch „Planet Germany“ lässt sich am Besten als Reiseführer für Einheimische beschreiben: Hansen greift darin typisch deutsche Selbsteinschätzungen auf und zerrupft sie genüsslich. Die Deutschen sind Workoholics? Nirgendwo sonst wird mehr Geld für Urlaub ausgegeben. Die Deutschen lieben die Hochkultur? Es gibt nichts erfolgreicheres als Volksmusiksendungen. Ganz nebenbei erklärt Hansen den aufmerksamen Lesern so einiges über die Geschichte Deutschlands, seine bedeutendsten Erfinder und zieht dabei immer wieder Parallelen zu seiner eigentlichen Heimat, den USA. Schnell wird deutlich: was den Deutschen fehlt, ist vor allem Selbstbewusstsein. Der Deutsche nörgelt am liebsten und redet alles schlecht – am liebsten sein eigenes Heimatland.
Dabei lernt man (gerade als Deutscher) so einiges: wenn Hansen in wenigen Sätzen klar macht, dass weite Teile der deutschen Wirtschaft heute noch Regelungen unterworfen sind, die aus dem Mittelalter stammen, möchte man sofort der FDP beitreten. Trotzdem ist das Buch gut, es ist unterhaltsam und lehrreich. Und: es wirft Fragen auf, die man sich selbst wohl noch nie gestellt hat. Ob das Buch einer differenzierten Betrachtung stand hielte, ist eigentlich zweitrangig, aber nicht mal auszuschließen: Hansen hat sehr gründlich recherchiert und arbeitet sich von dort mit einer Mischung aus gesundem Menschenverstand und Schalk im Nacken weiter. Allein das Kapitel, in dem er namhafte Politiker erklären lässt, was noch mal das Besondere an Goethe und Schiller war, sollte in jedem Deutsch-LK besprochen werden: Von sechsen geht genau einer (Lothar Bisky von der Linkspartei), wenigstens halbwegs angemessen auf das literarische Schaffen der beiden ein. Dafür schafft es jede Partei, diese „Dichter und Denker“ mit dem eigenen Programm auf Linie zu bringen.
Die ganze Zeit bleibt klar: Eric T. Hansen mag die Deutschen und ihr Land und er kann beim besten Willen nicht verstehen, warum sie es nicht selbst auch mögen. Den schmalen Grat zwischen „Schlussstrich“ und „Tätervolk“ lässt er nicht aus, aber er beschreitet ihn so leichtfüßig, wie es wohl nur ein Ausländer kann. Das, was Hansen anspricht, wäre dann möglicherweise „positiver Patriotismus“, nicht das Wedeln mit Fähnchen bei Sportgroßveranstaltungen. Ein paar Argumentationen und Ideen erinnern dann auch ein wenig an Michael Moore – nur dass der die freie Marktwirtschaft vermutlich nicht ganz so laut lobpreisen würde.
Ich würde mir wünschen, dass jeder dieses Buch liest – danach können wir weiterdiskutieren.

