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Musik

Song des Tages: Dan Bern – God Said No

Zum ers­ten Mal gehört: Im Som­mer 2002, Sonn­tags­abends in einer (durch­aus ernst­zu­neh­men­den) Musik­sen­dung auf WDR 2.

Wer musi­ziert da? Dan Bern, ein Musi­ker aus Iowa, von dem ich nur ein Album und ein paar ein­zel­ne Songs ken­ne. „New Ame­ri­can Lan­guage“ aller­dings ist gera­de­zu ein Meis­ter­werk, vom rocki­gen Ope­ner bis zum aus­ufern­den, zehn­mi­nü­ti­gen Final­song. Alles dazwi­schen ist wie Bob Dylan und Elvis Cos­tel­lo in ihren bes­ten Momen­ten durch­ein­an­der.

War­um gefällt mir das? Das ist natür­lich auch so ein Song, der vor allem über die Lyrics funk­tio­niert: Da trifft der Erzäh­ler auf Gott und bit­tet dar­um, in der Zeit zurück­rei­sen zu kön­nen, um a) Kurt Cobain vom Selbst­mord abzu­hal­ten, b) Hit­ler zu erschie­ßen, bevor der grö­ße­ren Scha­den anrich­ten kann und c) Jesus vor der Kreu­zi­gung zu bewah­ren. Aber Gott sagt jedes Mal „Nein“ — wohl­be­grün­det! Dass das Gan­ze kom­plett unpein­lich, ja im Gegen­teil: unglaub­lich anrüh­rend ist, muss man erst mal hin­krie­gen. Und die Musik ist ja auch ganz schön.

[Alle Songs des Tages — auch als Spo­ti­fy-Play­list]

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Song des Tages: The Beatles – All My Loving

Hier im Blog pas­siert in letz­ter Zeit nicht so rich­tig viel: Arbeit und Leben brau­chen schließ­lich auch ihre Zeit. Das ärgert mich trotz­dem – vor allem, weil wenn ich dann mal was blog­ge, der Grund meis­tens ist, dass ich mich über irgend­et­was Jour­na­lis­ten auf­re­ge. So wird das hier auf Dau­er die Abraum­hal­de für mei­ne schlech­te Lau­ne.

Aber das soll sich ändern.

Der Plan ist, jetzt jeden Tag ein Lied zu pos­ten. Ob alt oder neu, bekannt oder unbe­kannt, Indie, Hip­hop oder ESC ist dabei völ­lig wum­pe. Das ein­zi­ge Kri­te­ri­um ist: Es muss mir gefal­len oder für mich irgend­ei­ne Bedeu­tung haben, die ich in zwei, drei Sät­zen erklä­re.

Begin­nen wol­len wir mit einem Vor­schlag von Cap­tain Obvious:

Zum ers­ten Mal gehört: Kei­ne Ahnung. Irgend­wann vor 1993, als ich mei­ne ers­ten eige­nen CDs geschenkt bekam, die tat­säch­lich von den Beat­les waren – wenn auch kei­ne Ori­gi­nal-Alben, son­dern wüs­te Umsor­tie­run­gen der ers­ten fünf Alben durch eine Kaf­fee­rös­te­rei. Ich kann­te das Stück vor­her schon, denn als Instru­men­tal­ver­si­on war es die Titel­me­lo­die der WDR2-Ver­brau­cher­sen­dung „Quint­essenz“, die jeden Tag im Auto­ra­dio lief, wenn unse­re Mut­ter uns Kin­der zu Freun­den, zu Arzt­ter­mi­nen oder zum Ein­kau­fen fuhr.

Wer musi­ziert da? Die Beat­les. Ich bin nicht bereit, das näher zu erklä­ren. Die sind ja kei­ne Tele­fon­zel­le.

War­um gefällt mir das? Na ja, es sind die Beat­les. Es ist sicher­lich nicht ihr bes­ter Song, es ist nicht mal der bes­te Song der frü­hen Pha­se. Aber es ist tat­säch­lich der Song, der mir mir nach lan­ger Über­le­gung als der­je­ni­ge ein­fiel, an den ich die ältes­ten Erin­ne­run­gen habe (von irgend­wel­chen Kin­der­lie­dern jetzt mal ab). Und irgend­wie gefällt mir auch die rüh­ren­de Schlicht­heit der Lyrics: Hey, Dar­ling, mor­gen bin ich weg, aber ich schick Dir jeden Tag einen Brief mit all mei­ner Lie­be. Post von McCar­teny, sozu­sa­gen.

Und jetzt bin ich mal gespannt, wie lan­ge ich durch­hal­te …

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Musik

Taschenspielertricks

Wenn sich ein exzen­tri­scher Pop­mu­sik­lieb­ha­ber mit zu viel Tages­frei­zeit dar­an mach­te, den dümms­ten Song­text (des Jahrzehnts/​seiner Generation/​aller Zei­ten) zu küren, wür­de er sei­ne Suche womög­lich bei der Volks­tüm­li­chen Musik begin­nen, sich durch den Schla­ger arbei­ten und es dann mal beim Kir­mes­tech­no ver­su­chen. Ver­mut­lich wür­de er bei „The Ven­ga­bus is coming /​ And everybody’s jum­ping /​ New York to San Fran­cis­co /​ An inter­ci­ty dis­co“ sei­ne Arbeit für been­det erklä­ren, die gewon­ne­nen Erkennt­nis­se ver­öf­fent­li­chen und sein Leben wei­ter­le­ben. Und auf dem Ster­be­bett, nach einem lan­gen, erfüll­ten Leben von mehr als 80 Jah­ren, wür­de er sich mit der fla­chen Hand vor die Stirn schla­gen, „Ver­dammt!“ brül­len und ver­schei­den. Und die Ange­hö­ri­gen, die mit fei­er­li­cher Mie­ne um ihn her­um­ste­hen, wür­den sich fra­gen, was das denn jetzt wie­der war, Exzen­trik hin oder her.

Unse­rem Mann wäre im letz­ten Moment „You And Me (In My Pocket)“ des bel­gi­schen Musi­kus Milow ein­ge­fal­len, das er im Jahr 2011 ein paar mal im Radio gehört hat­te. Ein net­ter, harm­lo­ser Pop­song mit Akus­tik­gi­tar­re und ein­gän­gi­ger Melo­die. Auf den Text hat frei­lich nie jemand geach­tet, was – um einen von Klaus Wowe­reit, an den sich beim Able­ben unse­res Pop­mu­sik­lieb­ha­bers nie­mand mehr erin­nern kann, gepräg­ten Aus­druck zu ver­wen­den – auch gut so war.

Der Text beginnt mit fol­gen­den Wor­ten:

I wish you smel­led a litt­le fun­ny
Not just fun­ny real­ly bad
We could roam the streets fore­ver
Just like cats but we’d never stray

Da wünscht sich also das Lyri­sche Ich die­ses Lie­des, die Ange­be­te­te röche „ein biss­chen komisch“, bes­ser aber gleich „rich­tig schlecht“, auf dass er mit ihr allein durch die Stra­ßen schlen­dern kön­ne. „Inter­es­san­ter Gedan­ke“, denkt man da. Außer­dem reimt sich das ja gar nicht.

Es ist ein Lie­bes­lied, das Herr Milow da ent­wor­fen hat – zumin­dest legt der Refrain die­sen Schluss nahe:

Oh you and me
It would be only you and me

Dann hebt er an, die nächs­te Stro­phe zu schmet­tern, in der er sich wünscht, die Adres­sa­tin sei „rich­tig fett“, damit sie nicht mehr durch Türen pas­se und den gan­zen Tag in sei­nem Bett blei­ben müs­se – ein Bett, das hof­fent­lich nicht von Ikea stammt, denn wie soll­te das eine der­art fett­lei­bi­ge Per­son tra­gen?

Außer­dem möge sie bit­te Federn haben, er wür­de sie dann in einem rie­si­gen Käfig hal­ten, den gan­zen Tag beglot­zen und – Höchst­stra­fe bei einem Kerl, der sol­che Lie­der schreibt – für sie sin­gen! „And that would be okay“, na sicher.

Wer bis hier­hin schon der Mei­nung war, der­art geis­tes­kran­ke Macht­phan­ta­sien könn­ten sich nur Öster­rei­cher aus­den­ken (also: Fal­co jetzt), der hat den Tag vor dem Abend, die Rech­nung ohne den Wirt, in jedem Fall aber den Song nicht zu Ende gehört:

I wish you were a litt­le slower
Not just slow but para­ly­zed
Then I could plug you into a socket
So you could never run away

Es kommt ent­ge­gen anders lau­ten­der Gerüch­te eher sel­ten vor, dass ich mein Radio anschreie. Aber als mein Gehirn dum­mer­wei­se im Emp­fangs­mo­dus war und die­se Zei­len rezi­pier­te, stand mei­ne Hals­schlag­ader kurz vor der Explo­si­on und ich erwog sehr ernst­haft einen Anruf bei WDR 2, jenem Sen­der der sei­nen Hörern das Wort „fuck“ nicht zumu­ten möch­te, aber offen­bar kei­ne Pro­ble­me hat, ihnen Tex­te vor­zu­spie­len, in denen sich ein Typ wünscht, eine Frau sei „gelähmt“ und an lebens­er­hal­ten­de Sys­te­me ange­schlos­sen, damit sie nicht weg­ren­nen kön­ne. Darf jemand, der sol­che Tex­te schreibt, in die Nähe von Kin­der­gär­ten, Grund­schu­len und Alten­hei­men? Dage­gen sind die Gewalt­phan­ta­sien von Ramm­stein ja der reins­te Kin­der­ge­burts­tag!

Schluss jetzt:

I real­ly wish that you were smal­ler
Not just small but real­ly real­ly short
So I could put you in my pocket
And car­ry you around all day

Mehr als hun­dert Jah­re Femi­nis­mus, damit so ein Schmu­se­bar­de daher­ge­schmust kommt und eine sehr klei­ne Frau in sei­ner Hosen­ta­sche ver­stau­en will?! Mein Erre­gungs­po­ten­ti­al ist nor­ma­ler­wei­se begrenzt, ich lache auch über Wit­ze von Jür­gen von der Lip­pe, aber was für eine sexis­ti­sche Schei­ße win­selt die­ser James Blunt für noch Ärme­re denn da unter dem Deck­män­tel­chen groß­flä­chi­ger Roman­tik? Hmmm?!

Noch beun­ru­hi­gen­der als die­ser Song ist ver­mut­lich nur die Vor­stel­lung, dass es ein­zel­ne Frau­en geben könn­te, die bei die­sem Min­ne­ge­sang dahin­schmel­zen und den Quatsch für „super-roman­tisch“ hal­ten.

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Musik

Parental Advisory

Saturn bie­tet in sei­nem MP3-Shop gera­de die „Top 100 Hard Rock + Hea­vy Metal Alben“ für je 4,99 Euro an:

Top 100 Hard Rock + Heavy Metal Alben für je 4,99 Euro

Äh, Moment. Kann ich das drit­te Album von links noch mal sehen?

Mumford & Sons - Sigh No More (Albumcover)

Aha.

Da passt es natür­lich schön ins Bild, dass WDR 2 heu­te eine Ver­si­on von „Litt­le Lion Man“ gespielt hat, in der allen Erns­tes sämt­li­che Refrains bei „I real­ly fucked it up this time /​ Did­n’t I, my dear“ ohne das „fucked“ aus­kom­men muss­ten.

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Rundfunk Radio

Ich, WDR 2

Radio-Symbolbild

Ich reno­vie­re ja zur Zeit eine ehe­mals mil­de sanie­rungs­be­dürf­ti­ge Zwei-Zim­mer-Woh­nung in der Nähe der Bochu­mer Innen­stadt, wes­we­gen ich auch so sel­ten dazu kom­me, irgend­wel­che Tex­te zu schrei­ben. Weil die Geräu­sche, die so eine Reno­vie­rung macht, extrem lang­wei­lig sind (und ich mich immer noch jedes Mal erschre­cke, wenn mei­ne Gas-Ther­me anspringt), habe ich mir ein Radio in die Woh­nung gestellt. Es soll mich mit aktu­el­len Nach­rich­ten und gefäl­li­ger Musik ver­sor­gen, soll unter­hal­ten, aber nicht anstren­gen – kurz­um: Es soll das tun, wozu ein Neben­bei­me­di­um wie das Radio heut­zu­ta­ge da ist.

Ich habe mich not­ge­drun­gen für WDR 2 ent­schie­den. Bei mei­nen Eltern ist WDR 2 seit Jahr­zehn­ten in den Radi­os in Küche, Wohn­zim­mer und Auto ein­ge­stellt, und ich selbst höre den Sen­der seit eini­ger Zeit beim Früh­stück, noch dazu jeden Sams­tag­nach­mit­tag, wenn Fuß­ball ist. Es ist der Sen­der, mit dem ich auf­ge­wach­sen bin, und noch heu­te erin­nern mich Namen wie Horst Kläu­ser, Micha­el Bro­cker oder Gise­la Stein­hau­er an die Nach­mit­ta­ge mei­ner Kind­heit, an denen wir zum Ein­kau­fen fuh­ren oder zu Freun­den gebracht wur­den und im Auto­ra­dio das „Mit­tags­ma­ga­zin“ lau­fen hat­ten.

Ich höre WDR 2 nicht, weil der Sen­der so gut wäre, son­dern weil er alter­na­tiv­los ist: Eins Live ist für mich inzwi­schen uner­träg­lich gewor­den, WDR5 hat einen viel zu hohen Wort­an­teil und zu lan­ge Bei­trä­ge, wegen derer man dann zwan­zig Minu­ten lang den Staub­sauger nicht ein­schal­ten darf, und Deutsch­land­funk und Deutsch­land­ra­dio Kul­tur kann ich auch noch hören, wenn ich eben­so tot bin wie die Macher. CT das radio wäre nahe­lie­gend, habe ich kürz­lich auch pro­biert, aber da fehl­ten mir dann tags­über wie­der die Inhal­te. Es bleibt also wirk­lich nur WDR 2, wo die meis­ten Mode­ra­to­ren ganz sym­pa­thisch sind, die meis­ten Bei­trä­ge vor­her­seh­bar bie­der und man ins­ge­samt weiß, was man hat – so wie in einer lang­jäh­ri­gen Ehe halt.

Das Pro­blem ist: Der durch­schnitt­li­che Hörer hört einen Sen­der am Tag etwa 30 Minu­ten beim Früh­stück, Auto­fah­rer evtl. ein biss­chen mehr. Das Pro­gramm ist nicht dar­auf aus­ge­legt, den gan­zen Tag über zu lau­fen. Wer es trotz­dem ein­ge­schal­tet lässt, bekommt die Quit­tung: Die stän­di­ge Wie­der­ho­lung.

Ein Bei­trag, der in der „West­zeit“ lief, kann bequem noch mal bei „Zwi­schen Rhein und Weser“ recy­celt wer­den. Was im „Mit­tags­ma­ga­zin“ vor­kam, kann bei „Der Tag“ vier Stun­den spä­ter noch ein­mal lau­fen. Die Kurz­form bekommt man in der Zeit dazwi­schen alle zwei Stun­den in den Nach­rich­ten ein­ge­spielt. Der „Stich­tag“ wird eh zwei Mal am Tag aus­ge­strahlt (9.40 Uhr und 17.40 Uhr) – bei­de Male mit der wort­glei­chen An- und Abmo­de­ra­ti­on.

Beson­ders schlimm war es rund um den Jah­res­wech­sel: Vie­le Redak­teu­re hat­ten Urlaub und Rück­bli­cke und Vor­schau­en auf kul­tu­rel­le oder sport­li­che Groß­ereig­nis­se konn­ten belie­big oft gesen­det wer­den. Zeit­lo­se Bei­trä­ge wie der über die kal­ten Füße („War­um hat man sie, was kann man dage­gen tun?“) oder den Kauf des rich­ti­gen Ski-Helms wur­den ver­mut­lich im Okto­ber pro­du­ziert und lau­fen bis März alle andert­halb Wochen, dann wer­den sie ein­ge­mot­tet und erst im Fol­ge­win­ter wie­der her­vor­ge­holt.

Zwi­schen­durch läuft viel Musik, aber nur wenig unter­schied­li­che. Nach ein paar Tagen weiß ich, wel­che Songs auf wel­chen Rota­ti­ons­stu­fen lau­fen. Auf der höchs­ten bei­spiels­wei­se „Aero­pla­ne“ von Rea­m­onn, „Wheels“ von den Foo Figh­ters, „Fire­f­lies“ von Owl City und elen­di­ger­wei­se auch „If Today Was Your Last Day“ von Nickel­back. „I Will Love You Mon­day (365)“ von Aura Dio­ne ist ganz offen­sicht­lich der grau­en­er­re­gends­te Song des Jah­res 2009 (viel­leicht auch der schlech­tes­te Song, der jemals auf­ge­nom­men wur­de), aber das muss ja nicht alle 14 Stun­den aufs Neue bewie­sen wer­den. Stan­four kom­men von der Insel Föhr, was jedes ver­damm­te Mal in der Abmo­de­ra­ti­on erwähnt wer­den muss – dass Föhr die zweit­größ­te deut­sche Nord­see­insel ist, erfährt man nur alle drei bis vier Ein­sät­ze.

Unge­fähr die Hälf­te aller WDR2-Songs klingt so ähn­lich, dass man sich beim Zäh­len stän­dig ver­tut: Eine jun­ge Frau singt ein biss­chen soulig über einen Typen, der sie schlecht behan­delt, den sie aber trotz­dem liebt. Sie bleibt eine tap­fe­re, eigen­stän­di­ge Frau, wäh­rend im Hin­ter­grund das von den 1960er-Jah­ren inspi­rier­te Arran­ge­ment mit Blä­sern und Chö­ren schun­kelt. Mark Ron­son hat das Tor zur Höl­le auf­ge­sto­ßen, als er Amy Wine­house und Lily Allen pro­du­zier­te.

Eine Zeit lang den­ke ich, dass es an der eige­nen Radio­er­fah­rung liegt, dass mir das alles auf­fällt. Dann kom­men mei­ne Geschwis­ter zum Anstrei­chen und ver­kün­den, wel­cher Song in wel­cher Stun­de lau­fen wird (bei Eins Live kann man es auf die Minu­te genau vor­her­sa­gen). Nach vier Tagen ken­ne ich die Schicht­plä­ne der Nach­rich­ten­spre­cher und die Sen­de­uhr, nach acht Tagen bin ich die Sen­de­uhr.

Noch öfter als Bei­trä­ge und Musik­stü­cke wie­der­holt sich die Wer­bung – jede hal­be Stun­de. Ex-Deutsch­land­funk-Chef Ernst Elitz hat­te völ­lig Recht, als er ein­mal sinn­ge­mäß sag­te, Radio­wer­bung habe – im Gegen­satz zu Kino- oder Fern­seh­wer­bung – nie neue Ästhe­ti­ken erschaf­fen und neue Trends gesetzt, son­dern sei immer nur nerv­tö­tend gewe­sen.

Ich weiß jetzt, dass es bei Prak­ti­ker bis zum Wochen­en­de 20% auf alles („außer Tier­nah­rung“) gab, was ich aller­dings schon vor­her wuss­te, weil man beim Reno­vie­ren auf­fal­lend oft Bau­märk­te ansteu­ert. Man­fred „Bruce Wil­lis“ Leh­mann wirbt außer­dem noch für einen Küchen­markt, was mar­ke­ting­tech­nisch sicher sub­op­ti­mal ist, weil jetzt stän­dig die Leu­te bei Prak­ti­ker nach den Küchen-Rabatt-Aktio­nen fra­gen. Guil­do Horn wirbt für die Küchen in einem Ein­rich­tungs­markt, Wer­ner Hansch für einen ande­ren und Lud­ger Strat­mann eben­falls für einen. Es gibt Rabatt­ak­tio­nen in der Gale­ria Kauf­hof und Null-Pro­zent-Finan­zie­rung bei Opel und Peu­geot. Und Sei­ten­ba­cher-Müs­li ist gut für die Ver­dau­ung.

Die dre­ckigs­ten Arbei­ten sind abge­schlos­sen, mein gutes altes Tele­fun­ken-Radio hat viel Staub, aber nur sehr weni­ge Farb­sprit­zer abbe­kom­men. So lang­sam könn­te ich mei­nen einen iPod mit­brin­gen und an die alten Aktiv­bo­xen anschlie­ßen. Aber ich wür­de auch etwas ver­mis­sen: Die stän­dig ins Pro­gramm ein­ge­streu­ten Ever­greens von den Light­ning Seeds und The Beau­tiful South, die vor­ge­le­se­nen Hörer-E-Mails und die immer neu­en Ver­su­che, Ver­kehrs­mel­dun­gen mit humo­ris­ti­schen Ein­la­gen zu ver­bin­den.

Das Fre­quenz­wahl-Räd­chen mei­nes Tele­fun­ken wird auch nach dem Umzug unbe­rührt blei­ben.

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Politik

Unvernünftig

Nach­dem in der letz­ten Zeit eine beun­ru­hi­gen­de Zahl an Daten­schutz­ver­ge­hen auf­ge­flo­gen war, hat­te Wolf­gang Schäub­le ges­tern zu einem Daten­schutz­gip­fel gela­den.

Tho­mas Knü­wer nennt die beschlos­se­ne Geset­zes­ver­schär­fung, die die Daten­wei­ter­ga­be nur mit aus­drück­li­cher Ein­wil­li­gung der Betrof­fe­nen vor­sieht, eine „welt­frem­de PR-Akti­on der Poli­tik“ und for­dert ein kom­plet­tes Ver­bot des Han­dels mit Per­so­nen­da­ten.

Wolf­gang Schäub­le, Bun­des­mi­nis­ter des Inne­ren und selbst begeis­ter­ter Daten­samm­ler, sieht das ein biss­chen anders:

Wir soll­ten auch nicht das amt­li­che Tele­fon­buch, wo man gucken kann, wie man einen anru­fen kann, schon als eine der ganz gro­ßen Gefah­ren anse­hen. Son­dern was wir brau­chen ist, ange­sichts neu­er tech­no­lo­gi­scher Ent­wick­lun­gen, ange­sichts einem ganz ande­ren, ähm, Mög­lich­kei­ten, Poten­tia­len der Daten­samm­lung, ‑spei­che­rung und ‑ver­ar­bei­tung eine ver­nünf­ti­ge Begren­zung des Miss­brauchs.

[Nach­zu­hö­ren bei WDR 2]

Natür­lich ist ein Tele­fon­buch (für das ich der Nen­nung mei­ner Daten übri­gens gleich bei Anschluss­an­mel­dung wider­spro­chen habe) kei­ne „ganz gro­ße Gefahr“. Das hat aber ers­tens (soweit ich weiß) auch nie­mand behaup­tet und zwei­tens klingt die­se Umschrei­bung etwas merk­wür­dig aus dem Mun­de eines Man­nes, der in allem und jedem eine Gefahr sieht.

Und ob eine Begren­zung des Miss­brauchs auch etwas ande­res als „ver­nünf­tig“ sein kann, wüss­te ich dann wirk­lich ger­ne mal.

Mit Dank an Oli­ver Ding für den Hin­weis.

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Musik

All They Want To Do Is Rock

Ent­ge­gen mei­ner gest­ri­gen Behaup­tung wird das Wet­ter offen­bar doch nicht vom Spiel­plan der Fuß­ball­bun­des­li­ga bestimmt, son­dern vom Tour­ka­len­der bri­ti­scher Rock­bands. Denn kaum hat­te ich ges­tern Mit­tag zur Ein­stim­mung auf das abend­li­che Tra­vis-Kon­zert Musik mei­ner schot­ti­schen Lieb­lin­ge auf­ge­legt, öff­ne­te Petrus auch schon alle Schleu­sen und zwang mich, zur U‑Bahn zu waten.

In Köln-Mül­heim ange­kom­men, hat­te sich das Wet­ter wie­der beru­higt, aber im E‑Werk erwar­te­ten mich die nächs­ten Schocks – oder Schö­cke? Jeden­falls war der Laden um zwan­zig vor Acht gera­de mal mit geschätz­ten zwei­hun­dert Leu­ten gefüllt und über­all hin­gen rie­si­ge Wer­be­ban­ner von WDR 2. „Neeeeeeiii­in!“, schrie ich, „ich bin doch noch viel zu jung! Ich will nicht auf Kon­zer­te, die von die­sem Eltern-Sen­der prä­sen­tiert wer­den, gehen!“ Spä­ter sah ich, dass die Sound­mi­scher das Kon­zert mit­schnit­ten – und soll­te WDR 2 es schaf­fen, das kom­plet­te Kon­zert aus­zu­strah­len, wäre ich sogar mit den Ban­nern und dem Gefühl des Alt­s­eins ver­söhnt.1

Vor­band waren The Tas­te aus Mün­chen, eine Art White Stripes mit umge­kehr­ter Geschlech­ter­ver­tei­lung. Das war ganz nett und kurz­wei­lig und weil die Dame und der Herr jedes Lied nament­lich ankün­dig­ten weiß ich jetzt, dass nahe­zu alle The-Tas­te-Songs ein „you“ im Titel haben. Öhm, das klingt jetzt nicht son­der­lich posi­tiv, aber stel­len Sie sich mal vor, wie sie auf noch so gute Bands reagie­ren wür­den, die Ihre Lieb­lings­band sup­port­en müss­ten. Da guckt man halt immer auf die Uhr.

Auf die Uhr geguckt wur­de auch von offi­zi­el­ler Sei­te sehr exakt (WDR-2-Kon­zert halt): 19:59 Uhr Vor­band, 21:00 Uhr Licht aus für Tra­vis. Wie man es schon aus die­sem Mit­schnitt kennt, erklang zunächst die Hym­ne von 20th Cen­tu­ry Fox, ehe die Band in Bade­män­tel gehüllt zum „Rocky The­me“ in die Hal­le ein­zog. Durchs Publi­kum, das inzwi­schen glück­li­cher­wei­se doch noch ein biss­chen ange­wach­sen war. Fran Hea­ly sieht von nahem sehr viel klei­ner, bär­ti­ger und grau­er aus als auf der Büh­ne, aber er hat sehr wache Augen und einen fes­ten Hän­de­druck.

Als die vier Schot­ten und ihr schwe­di­scher Tour-Key­boar­der die Büh­ne erklom­men hat­ten, schmis­sen sie sich mit Schma­ckes in „Sel­fi­sh Jean“, wobei Fran Hea­ly wäh­rend des gan­zen Kon­zer­tes eines der T‑Shirts trug, die sich Deme­tri Mar­tin im Video zum Song vom Kör­per schält. Ohne aus­ufern­de Ansa­gen, die Fran noch auf ver­gan­ge­nen Tou­ren gemacht hat­te, sprang die Band von Song zu Song und damit kreuz und quer durch die eige­ne Geschich­te. Noch auf kei­ner Tour nach 2000 haben Tra­vis so vie­le Songs von ihrem Debüt­al­bum gespielt („Good Day To Die“, „The Line Is Fine“, „Good Fee­ling“ und „All I Want To Do Is Rock“), noch nie stan­den alte und neue Songs der­art Schul­ter an Schul­ter. Was beim Hören der ver­schie­de­nen Alben mit­un­ter nur schwer vor­stell­bar ist, wur­de live völ­lig klar: Die­se Songs stam­men alle von der sel­ben Band und sie sind auch alle Kin­der glei­chen Geis­tes.

Zwar spiel­te die Band jede Men­ge Sin­gles, aber das Kon­zert wirk­te den­noch nicht wie eine Grea­test-Hits-Show. Dafür fehl­ten die Nicht-Album-Sin­gles „Coming Around“ und „Wal­king In The Sun“, aber auch „Re-Offen­der“ von „12 Memo­ries“. Über­haupt gab’s vom unge­lieb­ten „dunk­len“ Album gera­de mal zwei Songs zu hören: „The Beau­tiful Occu­pa­ti­on“ und das luf­ti­ge „Love Will Come Through“. Was aber noch viel merk­wür­di­ger war: Es gab auch gera­de mal vier Songs vom aktu­el­len Album „The Boy With No Name“. Kein „Col­der“, kein „Batt­le­ships“, kein „Big Chair“.

Die Sie­ger im Set hie­ßen also „The Man Who“ (5 von 11 Songs, nur „Blue Flas­hing Light“ fehl­te zur vol­len Glück­se­lig­keit) und „The Invi­si­ble Band“ (5 von 12 Songs, davon „Flowers In The Win­dow“ in einer wun­der­ba­ren Akus­tik­ver­si­on, bei der die gan­ze Band sang). Die Reak­tio­nen im Publi­kum mach­ten deut­lich, dass es sich bei den Bei­den in der Tat um die Lieb­lings­al­ben der meis­ten Fans han­deln muss.

Obwohl das Set also etwas merk­wür­dig aus­sah und min­des­tens zwei Songs (für mich „Blue Flas­hing Light“ und „Col­der“) zu wün­schen übrig ließ, war es ein tol­les Kon­zert, denn die Band hat­te sicht­lich Spaß bei dem, was sie da tat, und die­se Freu­de über­trug sich auf das Publi­kum. Als letz­ten Song im Zuga­ben­block gab es dann natür­lich „Why Does It Always Rain On Me?“, das Lied, das für Tra­vis das ist, was „Creep“ für Radio­head, „Loser“ für Beck und „Won­der­wall“ für Oasis ist: Das Lied, das jeder kennt, auch wenn er sonst nichts von der Band kennt. Aber Tra­vis schaf­fen es, mit die­sem Hit wür­de­voll umzu­ge­hen und wenn das Publi­kum erst mal hüpft wie eine Kolo­nie juve­ni­ler Frö­sche, ist die kom­mer­zi­el­le Bedeu­tung des Lieds eh egal. Und weil Fran den Song beim ers­ten Mal falsch zu Ende gebracht hat­te („This does­n’t hap­pen that often becau­se usual­ly I’m per­fect“), gab’s das Fina­le dann ein zwei­tes Mal.

Das nächs­te Mal wol­len Tra­vis nicht wie­der vier Jah­re auf sich war­ten las­sen. Im Dezem­ber geht’s ins Stu­dio, um ein neu­es Album auf­zu­neh­men.

1 Ja, ich glau­be, das war eine Auf­for­de­rung.

Und hier noch die Set­list für die Jäger und Samm­ler:

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Rundfunk Leben

Nach dem Ende des Tunnels

Jetzt isse also auch schon zehn Jah­re tot, die Prin­zes­sin. Noch immer wol­len vie­le Lese­rin­nen von War­te­zim­mer­aus­le­ge­wa­re nicht glau­ben, dass das gla­mou­rö­se Leben von „et Dai­än­na“ ende­te, weil ihr betrun­ke­ner Fah­rer einen Mer­ce­des mit über­höh­ter Geschwin­dig­keit gegen einen Beton­pfei­ler jag­te.

Wie spä­ter bei den Anschlä­gen des 11. Sep­tem­ber oder vor­her bei der Ermor­dung John F. Ken­ne­dys (die deut­lich Älte­ren wer­den sich erin­nern …) weiß heut noch jeder, wo er an die­sem schö­nen Sonn­tag­mor­gen war, als er „davon“ erfuhr. Alter­na­tiv hat sich das Unter­be­wusst­sein aus der Wirk­lich­keit und den Mil­li­ar­den Berich­ten, die man seit­dem über die­se Ereig­nis­se gese­hen hat, eine eige­ne, viel­leicht span­nen­de­re Ver­si­on die­ses Moments zurecht­ge­bo­gen.

Ich taper­te an die­sem 31. August 1997 – von einer ein paar Tage zurück­lie­gen­den Ope­ra­ti­on noch leicht geh­be­hin­dert – durch die elter­li­che Woh­nung und ver­nahm auf WDR2 (es ist immer WDR2, wenn irgend­was schlim­mes pas­siert) einen Nach­rich­ten­spre­cher, der fol­gen­den Satz vor­las: „Bun­des­prä­si­dent Her­zog hat in einem Tele­gramm den Prin­zen Wil­liam und Har­ry sein Mit­ge­fühl aus­ge­drückt.“

„Was ist da los?“, dach­te ich, frag­te ich und bekam ich berich­tet. Und obwohl mir Prin­zes­sin Dia­na bis zu dies­me Moment nun wirk­lich sowas von egal gewe­sen war, war ich doch … Nein, nicht geschockt oder berührt oder so: ver­wirrt. Ich nahm die Nach­richt zur Kennt­nis und wid­me­te mich dem, was ich schon seit Ewig­kei­ten mache, wenn irgend­et­was schlim­mes pas­siert ist: Ich ver­such­te, alle Infor­ma­tio­nen über das Ereig­nis auf­zu­sau­gen.

Ich erin­ne­re mich dar­an, dass ich es irgen­wie unpas­send fand, dass WDR2 „Mmmm, Mmmm, Mmmm, Mmmm“ von den Crash Test Dum­mies spiel­te („Once the­re was this kid who got into an acci­dent and could­n’t come to school“), dass wir am Nach­mit­tag in „Mr. Bean – Der Film“ waren, und dass am Abend nichts ande­res im Fern­se­hen kam als die tote Prin­zes­sin. Alle Men­schen spra­chen nur noch davon, Mil­li­ar­den sahen die Beer­di­gung im Fern­se­hen und ich schnitt mir den neu­en Text von Elton Johns „Cand­le In The Wind“ aus der Zei­tung aus und ver­such­te, das Lied auf dem Kla­vier nach­zu­spie­len. Nach andert­halb Wochen war mir das eng­li­sche Königs­haus wie­der völ­lig egal.

Und wenn die­ser Tage wie­der über­all über die Prin­zes­sin berich­tet wird und der Satz „Sie wird nie ver­ges­sen wer­den“ fällt, dann ist das eine self-ful­fil­ling pro­phe­cy.

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Radio Rundfunk

I’m A Yesterday Man

Am Don­ners­tag star­te­te in den deut­schen Kinos „Robert Altman’s Last Radio Show“ (was – ange­denk der Tat­sa­che, dass Regis­seur Robert Alt­man inzwi­schen ver­stor­ben ist – ein über­ra­schend pas­sen­der „deut­scher“ Titel für „A Prai­rie Home Com­pa­n­ion“ ist). In dem höchst ver­gnüg­li­chen Revue­film mit Star­be­set­zung geht es um eine tra­di­ti­ons­rei­che ame­ri­ka­ni­sche Radio­show, die nach vie­len Jah­ren ein­ge­stellt wer­den soll.

Radio ist heu­te ein sog. Neben­bei­me­di­um, d.h. die Radio­ma­cher sind der Ansicht, ihre Hörer hör­ten ihnen sowie­so nicht zu, wes­we­gen sie ihr Pro­gramm so gestal­ten, dass ihnen auch wirk­lich nie­mand mehr zuhö­ren will: Über­dreh­te Gute-Lau­ne-Maschi­nen aus dem Pri­vat­ra­dio, die eine Hek­tik ver­brei­ten wie ein Hams­ter, der ein Kilo Ecsta­sy gefut­tert hat, könn­te ich nicht mal „neben­bei“ ertra­gen, und die ehe­ma­li­gen Qua­li­täts­sen­dun­gen der öffent­lich-recht­li­chen Sen­der sind inzwi­schen auch im „For­mat­pro­gramm“ ange­kom­men (zwei belie­bi­ge Pop­songs; ein Stu­dio­ge­spräch, das auf kei­nen Fall län­ger als andert­halb Minu­ten dau­ern darf und mit einem ner­vi­gen „Musik­bett“ unter­legt ist; zwei belie­bi­ge Pop­songs; eine kur­ze, poin­ten­lo­se Zwi­schen­mo­de­ra­ti­on; zwei belie­bi­ge Pop­songs; Wer­bung – dazu alle drei Minu­ten der Hin­weis, wel­chen Sen­der man gera­de noch mal ein­ge­schal­tet hat­te).

Da grenzt es fast an ein Wun­der, dass es auch im deut­schen Radio noch eine rich­ti­ge Radio­show im bes­ten, im klas­si­schen Sin­ne gibt: sie heißt „Yes­ter­day“, läuft seit 1995 auf WDR 2 und wird von ihrem Erfin­der Roger Handt mode­riert. Frü­her hieß sie „Yes­ter­day – Die Oldie-Show“ und genau das ist sie eigent­lich auch: In der ers­ten Stun­de der drei­stün­di­gen Sen­dung wer­den Hörer­wün­sche erfüllt (als „Oldie“ gilt ein Song, der vor mehr als zehn Jah­ren erschie­nen ist, d.h. spä­tes­tens Ende die­ses Jah­res kön­nen wir mit „Angels“ von Rob­bie Wil­liams rech­nen), in den zwei dar­auf­fol­gen­den Stun­den fin­det das „Yes­ter­day-Quiz“ statt, bei dem je zwei Hörer in zwei Run­den und einem Fina­le gegen­ein­an­der antre­ten.

Die Kan­di­da­ten, meist 55jährige Leh­rer aus Essen, müs­sen (manch­mal recht simp­le, manch­mal wirk­lich kniff­li­ge) Fra­gen zu einem bestimm­ten Jahr­zehnt beant­wor­ten, dazwi­schen gibt es vie­le Musik­ti­tel, die – auch das ist im Radio inzwi­schen eine Sel­ten­heit – fast immer aus­ge­spielt wer­den. Als es im Janu­ar um die Neun­zi­ger Jah­re (des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts) ging, fühl­te ich mich plötz­lich sehr, sehr alt. Ein­mal im Monat fin­det die Sen­dung vor einem Liv­e­pu­bli­kum statt, das mit­un­ter meh­re­re Jah­re auf sei­ne Ein­tritts­kar­ten war­ten muss­te, und was „Yes­ter­day“ (neben der vie­len Musik, die heu­te kaum noch im Radio gespielt wird, und den durch­aus inter­es­san­ten Quiz­run­den) so beson­ders macht, ist die Art, mit der Roger Handt sie mode­riert: es gibt kei­nen strik­ten Sen­de­plan, kei­ne Andert­halb-Minu­ten-Rege­lun­gen, kei­ner­lei Hek­tik.

Die Vor­stel­lung der Kan­di­da­ten nimmt so viel Zeit in Anspruch, wie ande­re Sen­dun­gen gera­de mal einem Star­in­ter­view (inkl. Musik­ti­tel) ein­räu­men wür­den. Handt kann sich minu­ten­lang mit einem kauf­män­ni­schen Ange­stell­ten aus dem Sie­ger­land über den Ein- und Ver­kauf von Schrau­ben („für den Tro­cken­bau, für Holz“) unter­hal­ten oder sich von einer Haus­frau aus Köln über ihre Kin­der berich­ten las­sen, ohne dass es auch nur ansatz­wei­se lang­wei­lig wird. Er inter­es­siert sich für sei­ne Anru­fer (und wohl für alle sei­ne Hörer) und die freu­en sich, „end­lich mal durch­ge­kom­men“ zu sein – ob sie hin­ter­her etwas gewin­nen (es geht um CDs und Kon­zert­kar­ten), ist den meis­ten fast egal. Handt ist locker im posi­ti­ven Sinn, ohne dabei ins Jovia­le (s. Tho­mas Gott­schalk) oder Über­dreh­te (s. Früh­stücks­mo­de­ra­to­ren auf jedem ver­damm­ten Sen­der) abzu­rut­schen, und er sagt Sachen wie „Schon komisch, dass so ein Franz Becken­bau­er mal Plat­ten ein­ge­sun­gen hat. Obwohl: Mari­us Mül­ler-Wes­tern­ha­gen singt ja auch …“

Die Sen­dung läuft Sams­tag­abends ab 19 Uhr und sorgt damit regel­mä­ßig dafür, dass man sich beim Abend­essen fest­hört und das abend­li­che Fern­seh­pro­gramm ein­fach igno­riert. Roger Handt kennt jeden Song, den er spielt, und weiß, wer ihn wann (wahr­schein­lich auch wo) geschrie­ben, und wer ihn Jah­re spä­ter auf der B‑Seite wel­cher Sin­gle geco­vert hat – und wer dabei die Lead­gi­tar­re spiel­te, obwohl er gar nicht in den Liner Notes auf­tauch­te. Soll­te er sich doch mal einen gro­ben Schnit­zer erlau­ben, weist er hin­ter­her ganz zer­knirscht dar­auf hin.

Roger Handt ist kein deut­scher John Peel. Der legen­dä­re eng­li­sche Radio-DJ ent­deck­te bis zu sei­nem plötz­li­chen und viel zu frü­hen Tod 2004 noch wöchent­lich neue Plat­ten und fei­er­te Musi­ker, die sei­ne Enkel­kin­der hät­ten sein kön­nen. Handt, der 1945 und damit sechs Jah­re nach Peel gebo­ren wur­de, sagt heu­te in Inter­views Sät­ze wie

Ich muss mich nur noch für das inter­es­sie­ren, was mich inter­es­siert.

und dass Fred­dy Quinn ein paar geist­rei­che­re Sachen gesun­gen habe als Xavier Naidoo. Das ist sein gutes Recht, und gera­de bei sol­chen Ver­glei­chen wagt man – schon wegen man­geln­der Werk­kennt­nis bei­der Künst­ler – kaum zu wider­spre­chen.

„Yes­ter­day“ ist ech­te Radio­un­ter­hal­tung. Man kann sich irre jung („Das war Karl Schil­ler, Bun­des­wirt­schafts­mi­nis­ter von 1966 bis 1972.“) und wahn­sin­nig alt („Und als nächs­tes hören wir Han­son mit ‚MMM­bop‘!“) füh­len. Bei mir erzeugt die Sen­dung das, was schon lan­ge kei­ne Fern­seh­show mehr erreicht: das Gefühl der Gebor­gen­heit, so wie vor vie­len Jahr­zehn­ten die Illies’sche Bade­wan­ne vor „Wet­ten dass …?“