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Mein Fan-Problem

Es mag so die 82. Minute im WM-Viertelfinalspiel Deutschland gegen Kroatien gewesen sein, als ich den Fernseher im Wohnzimmer meines Elternhauses zurückließ, in den Garten ging und meinen Fußball immer wieder gegen die Wand des Gartenhauses drosch. “So geht das, Ihr Versager”, rief ich an die Adresse der deutschen Mannschaft, die gerade in Lyon 0:2 zurücklag. Meine Mutter trat auf die Terrasse, beobachtete skeptisch mein wütendes Gebolze und verkündete, es stehe jetzt 0:3.

In der deutschen Mannschaft spielten damals so klangvolle Namen wie Christian Wörns, Jörg Heinrich, Dietmar Hamann, Michael Tarnat und Olaf Marschall.

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Ich bin jetzt seit 22 Jahren Fußballfan — und das hat viel mit Missverständnissen zu tun:

Das erste Fußballspiel, an das ich mich erinnern konnte, war das Achtelfinale Deutschland gegen die Niederlande bei der Italia 90. Zuvor waren wir im Sommerurlaub in den Niederlanden gewesen, wo damals alle der Meinung waren, dass ihr Team Weltmeister werden würde. Alles war in Oranje dekoriert und seitdem bin ich Holland-Fan. Holland verlor gegen Deutschland, Deutschland wurde Weltmeister und ich musste – ebenso wie Franz Beckenbauer – annehmen, dass Deutschland auf Jahre unbesiegbar sein werde. Dann verlor Deutschland das EM-Finale 1992 gegen Dänemark ((Das sich nicht mal regulär qualifiziert hatte und in meinem Panini-Sammelalbum nur mit einem zweiteiligen Mannschaftsfoto gewürdigt wurde, nicht mit einer Doppelseite voller Einzelporträts!)) und ich weinte als Achtjähriger heiße Tränen der Enttäuschung.

Da meine Begeisterung für Sport (genauso wie meine Begeisterung für den Eurovision Song Contest) von Anfang an vor allem von meiner Begeisterung für Zahlen und Statistiken geprägt wurde, tippte ich vor der WM 1994 alle Spiele des Turniers, errechnete die Gruppensieger und Achtelfinalpaarungen und kam zu dem Schluss, dass Deutschland seinen Titel verteidigen würde. Daraus wurde nichts, ich war wieder einmal bitter enttäuscht, aber der Gedanke, dass dieser Finalsieg 1990 nicht die Regel, sondern die Ausnahme gewesen sein könnte, kam mir erst viele Jahre später. Ich hatte mich unterdessen in die schwedische Mannschaft verliebt, die mit offenkundigen Weltklassespielern wie Thomas Ravelli, Patrik Andersson, Thomas Brolin, Henrik Larsson, Kennet Andersson und Martin Dahlin WM-Dritter wurde. Als ansonsten ahnungsloser Junge musste ich davon ausgehen, dass Schweden eine internationale Top-Mannschaft sei.

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Endgültig vom Fußball angefixt, brauchte ich natürlich auch eine eigene Bundesligamannschaft. Meine Wahl fiel auf Borussia Mönchengladbach, was nicht so willkürlich wahr, wie es sich im ersten Moment anhören mag: Stefan Effenberg, der wegen seines Mittelfinger-Einsatzes gegen deutsche Fans bei der WM aus dem Kader geflogen war, wollte nach dem Turnier in die Bundesliga wechseln. Aus irgendeinem frühpubertären Grund fand ich die “Stinkefinger”-Aktion als Zehnjähriger cool und dachte mir: “Hey, wo der hingeht, das ist mein Verein: Bremen oder Mönchengladbach!” Für Gladbach sprachen dann aber auch noch die schwedischen Nationalspieler Patrik Andersson und Martin Dahlin und mein Patenonkel, der in Mönchengladbach wohnte.

Vor dem Beginn der Bundesligasaison 1994/95 hatte ich keine Ahnung, wie erfolgreich diese Borussia aus Mönchengladbach sein könnte, ein Jahr später waren “wir” Fünfter in der Bundesliga und DFB-Pokalsieger geworden. ((Das Pokalfinale in Berlin hatte ich als mein zweites Fußballspiel überhaupt sogar live im Berliner Olympiastadion verfolgt.)) Ich musste wieder einmal annehmen, mich für eine Top-Mannschaft entschieden zu haben.

Am letzten Spieltag der Saison 1997/98 rettete sich Gladbach ((Mit Schützenhilfe von Hansa Rostock!)) vor dem Abstieg, ein Jahr später stieg mein Verein dann doch in die zweite Liga ab. Ich beschloss, mich eher auf Musik zu konzentrieren, wo ich auf weniger Enttäuschungen hoffte. Nach einem Jahr lösten sich zwei meiner damaligen Lieblingsbands auf.

Als ich gerade nach Bochum gezogen war, qualifizierte sich der VfL für den UEFA-Cup, ein Jahr später stieg er ab. Gladbach entließ 2006, nach der erfolgreichsten Saison seit zehn Jahren, den Trainer und ging 2007 wieder in die zweite Liga. Letztes Jahr trafen beide Mannschaften in der Relegation aufeinander, ich konnte mich kaum entscheiden — und ein Jahr später beendete Gladbach die Saison in der ersten Liga auf Platz 4, Bochum Elfter in Liga Zwei.

Man lernt als Fußballfan viel fürs Leben, denn es gilt das gleiche, was Jason Lee in “Vanilla Sky” über die Liebe sagt:

You can do whatever you want with your life, but one day you’ll know what love truly is. It’s the sour and the sweet. And I know sour, which allows me to appreciate the sweet.

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Was meine Liebe zum Fußball, aber auch die zur Musik, immer etwas schwierig gestaltet hat, waren die anderen Fans. Ich hatte immer Schwierigkeiten damit, Teil einer Gruppe zu sein. Ich denke dann immer: “Wir mögen ja gemeinsame Interessen haben, aber ich bin doch ganz anders als Ihr!”

Wenn ich während der zwei Wochen Eurovision denke, so langsam sei es aber auch mal gut, mit den Klischeeschwulen, die da blondiert und nasal flötend um mich rumtucken, muss ich mich nur dran erinnern, wie es im Fußballstadion aussieht: Homophobie statt Homosexualität, plumpes Gebrüll statt entzücktem Gekreische und generell null Taktgefühl. Natürlich: Nicht alle Fußballfans sind so, aber in der Summe ist es für mich dann doch schwer erträglich. Schon in der Kneipe sind mir diese Typen ein Graus, die immer hinter einem stehen und in jeder verdammten Szene die Spieler lautstark anbrüllen — dabei können Menschen im Fernsehen einen nun wirklich nicht hören.

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Schlimmer als diese Fans, die es mit ihrer Begeisterung für den Sport dann vielleicht doch ein bisschen übertreiben, sind aber jene Leute, die sich zu internationalen Turnieren in schwarz-rot-goldene Schale werfen und gemeinsam mit der Boulevardpresse darauf hoffen, dass “wir” den Titel holen.

Natürlich kann man internationale Fußballturniere verfolgen, ohne die Abseitsregel oder die FIFA-Weltrangliste zu kennen. Auch habe ich in den letzten sechs Jahren verstanden, dass die Menschen, die ihre Häuser und Autos mit Deutschlandflaggen schmücken, in den allerwenigsten Fällen Neonazis sind. Aber diese Schönwetterfans sind schon schwer erträglich.

Wenn man von den unglücklichen Vogts-Weltmeisterschaften 1994 und ’98 und den EM-Totalausfällen 2000 und 2004 absieht, zählt Deutschland seit 26 Jahren kontinuierlich zu den vier besten Mannschaften Europas bzw. der Welt. Wer Fußball nur guckt, weil er auf einen Titelgewinn der eigenen Mannschaft ((Oder schlimmer noch: der eigenen Nation.)) hofft, ist kein Fan der Sportart, sondern einfach nur jemand, der sein Verhältnis zu dieser Sportart von einem einzigen Faktor abhängig macht: dem Titel. Mit dieser Einstellung kann man dieser Tage nicht mal mehr Fan des FC Bayern München werden — und selber Sport treiben sowieso nicht.

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Das EM-Viertelfinale gegen Griechenland war sicher kein brillantes Spiel. Die deutsche Mannschaft hat sich gegen eine eher drittklassige Mannschaft zwei Gegentore eingefangen, das Spiel letztlich innerhalb einer sehr guten Viertelstunde gewonnen.

“Bild” titelte am nächsten Morgen:

Uns stoppt keiner mehr!

Die “Bild”-Schlagzeilen vor und nach dem Halbfinal-Aus, die mein Kollege Mats Schönauer im BILDblog gesammelt hat, stammen allerdings noch aus einer ganz anderen Welt: Ich finde es eh schwierig, wenn Journalisten (oder in diesem Fall: “Bild”-Mitarbeiter) “wir” sagen und damit die deutsche Mannschaft meinen. Wenn ein kleiner Junge und vielleicht auch älterer Fußballfan enttäuscht und wütend sind, ist das menschlich — aber Medien sollten nicht menschlich, sondern sachlich berichten. Was “Bild” da macht, geht über den normalen Wahnsinn eines enttäuschten Fans hinaus. Da arbeitet eine ganze Redaktion an Schlagzeilen, die all dem entgegenstehen, was sie selbst wenige Tage zuvor erarbeitet hat. Ein menschliches Gehirn müsste eigentlich implodieren, wenn sich sein Besitzer derart selbst widerspricht.

“Bild” reagiert wie ein trotziger Dreijähriger, der seiner Mutter “Ich hasse Dich!” entgegen schleudert, wenn sie ihm kein zweites Eis mehr kaufen mag, oder wie ein Stalker — in jedem Fall wie niemand, dem man rationales Denken unterstellen könnte.

Die Mannschaft sei “zu soft” für den Titel, so urteilt “Bild”. Die neoliberale Moral der Casting-Shows der “Bild”-Freund Dieter Bohlen und Heidi Klum wird so weiter im Bewusstsein junger Menschen verankert: “Du musst es nur hart genug wollen! Wenn Du es nicht schaffst, hast Du nicht hart genug gewollt!”

Hier werden Menschen so behandelt, als seien sie Maschinen, die man nur richtig optimieren muss, damit sie Erfolg haben. Und Erfolg heißt immer nur, Erster zu sein. Es geht nie darum, für sich selbst das Beste herauszuholen, sondern ausschließlich darum, “Bester” zu sein. Alles andere ist immer eine Enttäuschung. Wer so denkt, wird fast immer ein Leben voller Enttäuschungen führen.

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Es spricht eh wenig dafür, dass im Sportjournalismus irgendjemand arbeitet, der Fußball liebt: Spiele werden in so viele statistische Werte (gelaufene Meter, gespielte Pässe, gewonnene Zweikämpfe, etc.) zerlegt, dass nicht mal ich als Statistik-Freund irgendeinen Sinn darin sehe — und ich weiß, dass Heiko Herrlich und Mario Basler in der Bundesligasaison 1994/95 mit jeweils 20 Treffern Torschützenkönige der Bundesliga wurden.

Der Statistikwahn der aktuellen Sportberichterstattung ist so, als ob man eine CD nach ihrer Spielzeit, der Beatzahlen der einzelnen Tracks und der Anzahl der Harmoniewechsel bewerten würde. Man möchte sich nicht vorstellen, wie solche Menschen ihre Ehepartner aussuchen. Wer die ganze Welt in angeblich objektive Zahlen zerlegt, wird irgendwann überrascht feststellen, dass er sie trotzdem nicht versteht.

Und dann immer diese Benotungen nach Fußballspielen! Natürlich hat Lukas Podolski am Donnerstag schlecht gespielt, aber was hat man davon, wenn man ihm dafür eine “6” geben kann?

Wirtschaftsverbände und Lehrer kritisieren die Notenvergabe an Schulen in ihrer aktuellen Form als wenig aussagekräftig. Ich habe es immer schon für Unfug gehalten, dass jemand, der Medizin studieren möchte, dafür gute Schulnoten in Geschichte, Englisch, Sport und Religion braucht. Und wenn Sie jetzt sagen: “Ja, aber irgendwie muss man so eine Studienplatzzulassung ja regeln”, dann entgegne ich Ihnen: “Wenn unser Bildungssystem es nicht einmal auf die Kette bekommt, gerechte und logische Zulassungsverfahren zu entwickeln, dann brauchen wir mit dem Versuch, künftige Eliten auszubilden, ja gar nicht erst anzufangen!”

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Im November 2009 war aus einem Volk von 82 Millionen potentiellen Bundestrainern kurzzeitig eine Nation von 82 Millionen Psychologen geworden: Nach dem Suizid des depressiven Nationaltorhüters Robert Enke erklärten Funktionäre, Fans und Medien, es müsse ein sogenanntes Umdenken einsetzen.

Walter M. Straten, damals stellvertretender Sportchef bei “Bild”, hatte sich damals von der “Süddeutschen Zeitung” so zitieren lassen:

“Wir werden wohl mit extremen Noten etwas vorsichtiger sein”, sagt der stellvertretende Bild-Sportchef. Man werde sich einmal mehr überlegen, “ob der Spieler, der eine klare Torchance vergeben hat, oder der Torwart, der den Ball hat durchflutschen lassen, eine Sechs bekommt oder eine Fünf reicht”.

Schnell zeigte sich, dass Stratens Aussage exakt so ernst zu nehmen war, wie andere Aussagen der “Bild”-Chefredaktion.

In der Zwischenzeit ist ein Bundesligatrainer wegen Burnouts zurückgetreten, hat ein Schiedsrichter einen Suizidversuch unternommen, wird einem Bundesligaprofi vorgeworfen, sein Haus in Brand gesetzt zu haben.

Jedes Mal zeigen sich alle entsetzt und jedes Mal geht es danach weiter: Fußballer sind entweder Helden oder Luschen, es gibt nur hop oder top.

Als Fan fand ich den Satz “Es ist doch nur ein Spiel”, immer schlimm. Er kann nur von Menschen kommen, die selbst nie mitgefiebert und mitgelitten haben. Aber an etwas anderes sollte man immer mal wieder erinnern: Diese Götter oder Versager, die da Tore schießen oder Chancen vergeben, die brillant aufspielen oder grandios vergeben, das sind letztendlich auch nur Menschen. Also: “nur”.

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Musik

Interview mit James Walsh (Starsailor)

Starsailor können sich noch so Mühe geben: Wirklich cool werden die vier Briten in diesem Leben nicht mehr.

Als James Walsh am Montagnachmittag in der CD-Abteilung des Hamburger Saturn-Marktes ein kurzes Akustikset spielt, stehen die Fans (von denen nicht mordsmäßig viele gekommen sind) zwischen Regalen, die mit “Schlager” beschriftet sind, um Autogramme an. Da kann man dann auch noch Abbas “Dancing Queen” covern, ohne dass es Einfluss auf die credibility hätte. Schön ist es trotzdem.

Zweieinhalb Stunden später sitzt James Walsh im Backstageraum der Fabrik und langweilt sich. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er das auch während unseres Interviews (siehe unten) tut, aber da müssen wir gemeinsam durch. Die Themen: Rock’n’Roll-Klischees, Politik und Jeremiah Duggan, über dessen mysteriösen Tod die Band vor vier Jahren einen Song geschrieben hat. Walsh antwortet höflich bis nett und dass er eine Stunde vor dem Auftritt keinen Bock hat, endlos zu reden, kann man ja auch verstehen.

James Walsh im Interview.

Nach zwölf Minuten sind Martina und ich fertig mit Fotos und Interviews und es kommt noch zu einer Norbert-Körzdörfer-esken Szene, als Walsh uns mit großer Geste auffordert, uns doch noch aus dem Kühlschrank zu bedienen. “It’s Guinness, that’s the real thing”, sagt er und ich denke, ich hätte mal besser gucken sollen, von welcher Marke seine Armbanduhr war.

Nach der Vorband (Oh, Napoleon aus Krefeld, hören Sie da ruhig mal rein) steht ein anderer James Walsh auf der Bühne: Er ist hellwach, scherzt mit seiner Band und erinnert kein bisschen mehr an den scheuen Anfang-Zwanziger, der sich vor acht, neun Jahren am liebsten hinter dem Mikrofonständer versteckt hätte. Anders als bei den letzten Touren gibt es keinen zusätzlichen Gitarristen mehr, Walsh spielt alles selbst und das kann er durchaus gut. Fünf Songs spielen Starsailor vom aktuellen Album “All The Plans” — einen weniger als vom Debüt “Love Is Here”.

Starsailor live.

Was einem vermutlich wieder keiner glauben wird: Die Band hat live in den letzten Jahren schon immer ordentlich gerockt, heute Abend tut sie es besonders. Walsh freut sich über das beste Publikum, das sie in Deutschland je gehabt hätten, und man ist geneigt, das nicht als Spruch abzutun: Die Fabrik kocht und wenn ich im Schätzen von Menschenmassen nicht so unfassbar schlecht wäre, könnte ich meine Behauptung, es handele sich auch um das größte Publikum, das die Band in Deutschland je hatte, auch ein wenig untermauern. Wirklich viele waren es leider trotzdem nicht.

Der Stimmung tut das keinen Abbruch, neue Songs werden warm aufgenommen, alte bejubelt. Ein Fan sagt, er sei aus Japan gekommen, will aber seinen Namen nicht nennen: “Liking Starsailor can get you into real trouble”, lacht James Walsh und man ist sich gar nicht sicher, ob das jetzt Koketterie oder eine realistische Einschätzung des Bandimages ist. Aber Image ist nichts, entscheidend ist auf der Bühne: “Four To The Floor” wird fast von seinen kompletten Disco-Streichern befreit und kommt als krachiger Britpop-Stampfer daher und wird direkt anschließend noch mal in der Remix-Version angestimmt. Letzteres ist zwar nicht neu, macht aber immer wieder Spaß.

Nach dem regulären Schlusssong “Good Souls” gibt es noch eine weitere Zugabe: “Tomorrow Never Knows” von den Beatles. An denen kommt man im Moment wirklich nicht vorbei — auf dem Sofa im Backstageraum lag auch eine der frisch remasterten CDs herum.

Starsailor live.

Und hier das Interview im Coffee-And-TV-Podcast:

Interview mit James Walsh (Zum Herunterladen rechts klicken und “Ziel speichern unter …” wählen.)

Sie können die Podcasts übrigens auch als eigenen Feed oder direkt in iTunes abonnieren.

Starsailor spielen das letzte Konzert ihrer Deutschlandtour am Sonntag, 27. September im Gloria in Köln.

Fotos: © Martina Drignat.

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Musik

Aber hier leben? Nein, Danke!

Aus dem aktuellen Tocotronic-Newsletter:

Liebe FreundInnen,
es ist unfassbar: Anläßlich des Tages der Deutschen Einheit hat der ansonsten von uns hochgeschätzte Musikvideosender MTV auf seiner Internetseite unter der Überschrift “Heimatmelodien” (!) ein Voting für den besten deutschen Songtext (“Deutschland – Land der Dichter und Denker”) gestartet. Auch unsere Gruppe, Tocotronic, ist dort mit dem Text zu dem Lied “Imitationen” vertreten. Wir möchten ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir nichts, aber auch gar nichts von unserer Teilnahme an dieser höchst zweifelhaften Aktion gewußt haben und wir auch nichts von solchen heimatduseligen Lyrikwettbewerben halten. Im Gegenteil: Eine solches Voting repräsentiert so ziemlich das genaue Gegenteil der von uns propagierten Inhalte. Dies nur mal so nebenbei.
Viele Grüsse
Tocotronic

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Rundfunk Sport

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!

Nun ist diese Fußball-EM also auch schon wieder vorbei. Deutschland hat sie nicht gewonnen (was zu erwarten war), ist aber Zweiter geworden (was nicht zu erwarten war).

Somit ist es Zeit für den Coffee-And-TV-EM-Rückblick:

Die Gastgeber
Legen wir ausnahmsweise mal, was wir bei der Hymne nie tun würden, die Hand aufs Herz: Schweizer und Österreicher gelten den Deutschen ja irgendwie als die etwas weltfernen Stiefcousins. Die, die so ähnlich wie wir reden, aber doch anders, und die, die beruhigenderweise immer noch schlechter Fußball spielen als die Deutschen.

Entsprechend war es dann auch das erste wichtige Turnier, bei dem alle Gastgeber die Vorrunde nicht überstanden, was wohl auch die Stimmung vor Ort etwas trübte. Von Österreich und der Schweiz bekam man im Fernsehen leider viel zu wenig mit, die Bilder aus den Innenstädten hätten auch in Dresden, Hannover oder einer anderen deutschen Stadt, in der ich noch nie war, gedreht sein können. Doch gestern nach dem Finale wurde klar: die Gastgeber waren die bescheidenen kleinen Brüder von Deutschland 2006. Alles war ein bisschen gedämpfter, stilvoller.

Die Favoriten
Ja, das war etwas merkwürdig: Mein Europameistertipp Tschechien überstand die Vorrunde ebensowenig wie meine Lieblingsmannschaft Schweden, die Italiener retteten sich mit Mühe und Not gegen die dann ausgeschiedenen Franzosen über die Gruppenphase, und Griechenland bewies endlich, dass der Gewinn der EM vor vier Jahren wirklich nur ein Betriebsunfall der Fußballgeschichte gewesen war. Vorher hatten sie uns allerdings mit dem 0:2 gegen Schweden eines der grauenhaftesten Spiele des Profisports geboten.

Nachdem sie in der Vorrunde den Weltmeister, den Vizeweltmeister und schließlich mit einer B-Mannschaft auch noch die Rumänen in Grund und Boden gedemütigt hatten, galten die Holländer als klarer Favorit, was sich alsbald als die bei diesem Turnier unliebsamste Rolle herausstellte: Zack!, brachen sie gegen die Russen ein wie eine labbrige Fritte im Nordseesturm. Von allen Gruppenersten schaffte es gerade mal Spanien, sich nach einem freudlosen Spiel gegen die Italiener durchzusetzen – aber auch nur, weil deren Elfmeterglück nach dem Berliner WM-Finale bis mindestens 2044 aufgebraucht ist. Portugal scheiterte an den Deutschen, die zur Überraschung aller ein gutes Spiel ablieferten, die Kroaten, die wirkten als hätte man ihnen das mit Elfmeterschießen erst nach Ende der Verlängerung erklärt, scheiterten letztlich an der unfassbaren Last-Minute-Macht der Türken.

Um die dem Turnier innewohnende Tragik auf die Spitze zu treiben, erwischte es im Halbfinale ausnahmsweise mal die Türkei in der letzten Minute, woraufhin Deutschland versehentlich im Finale stand, in das am Folgetag die Spanier einzogen. Auch Guus Hiddinks Russen, die sich im ersten Gruppenspiel gegen Spanien trickreich totgestellt und danach alles dominiert hatten, konnten die Iberer (Sportjournalismus geht nicht ohne Thesaurus) nicht mehr stoppen.

Im Finale musste Spanien nur noch Deutschland schlagen, was dann auch kein Problem mehr war, weil die Deutschen neben Philipp Lahm und Jens Lehmann ausschließlich Doppelgänger ihrer Stammelf aufgestellt hatten. Beim einzigen Gegentor kamen sich konsequenterweise Lahm und Lehmann in die Quere.

Dies Spanier wurden völlig verdient Europameister und bewiesen bei der Pokalübergabe auch noch, dass sie deutlich besser erzogen sind als die Italiener, die sich den Cup vor zwei Jahren einfach selbst verliehen hatten. Michel Platini wirkte wie ein Lehrer auf Klassenfahrt, als er inmitten der spanischen Spieler die am wenigsten hässliche Sporttrophäe der Welt (man ist ja schon für Kleinigkeiten dankbar) Iker Casillas in die Hand drückte.

Deutschland
Die eigentliche Sensation ereignete sich bereits am 8. Juni: Deutschland gewann ein EM-Spiel. Viel mehr hatten sich Joachim Löw und seine Mannschaft wohl nicht vorgenommen, weswegen man im darauffolgenden Spiel gegen Kroatien einfach mal alles (außer dem eigenen Harn) laufen ließ. Ich habe glücklicherweise die zweite Halbzeit verschlafen und wurde erst pünktlich zur roten Karte gegen Bastian Schweinsteiger wieder wach. Vermutlich zum letzten Mal in der Nationalmannschaft gesehen haben wir David Odonkor, bei Mario Gomez wird sehr, sehr viel Aufbauarbeit nötig sein.

Gegen Österreich erlebte man endlich wieder die klassische deutsche Turniermannschaft wie bei der EM ’96 oder der WM 2002: schwach spielen, hinten sauber halten, vorne eine Standardsituation ausnutzen, weiterkommen. Gegen Portugal siegte dann Bastian Schweinsteiger im Alleingang, wie er das jetzt offenbar immer gegen Portugal machen will, und gegen die Türkei war Deutschland so unfassbar schlecht, dass es einzig und allein dem grundsympathischen Philipp Lahm und dessen Siegtor zu verdanken war, dass ich mir das Finale überhaupt ansehen wollte. Das Trauma des Halbfinals, dass man sich über einen völlig unverdienten Sieg freuen sollte, wiederholte sich gestern Abend dann zum Glück nicht: Nach zehn Minuten Fußball wollte das Deutsche Team auch mal “was mit Rasen” machen und servierte den Spaniern die Torchancen auf einem Silbertablett mit Platinintarsien. Wenn man der spanischen Mannschaft einen Vorwurf machen kann, dann den, dass ihre Chancenausbeute genauso schlecht war wie bei allen anderen Mannschaften ab dem Viertelfinale. Ich möchte hiermit die neue Regel vorschlagen, dass, wenn zwei Mannschaften es nicht schaffen, innerhalb von 120 Minuten wenigstens ein Tor zu schießen, einfach beide aus dem Turnier ausscheiden.

Nicht unerwähnt bleiben sollte Angela Merkel, die im Stadion nicht nur die wichtigste Entscheidung ihrer bisherigen Amtszeit traf (Bastian Schweinsteiger motivieren), sondern auf der Tribüne und im Interview einmal mehr ihren Fußballsachverstand bewies. Ich möchte sie hiermit ganz ehrlich als kommende DFB-Präsidentin vorschlagen, was sicher auch im Hinblick auf 2011 ein schönes Signal wäre.

Regeln & Schiedsrichter
Die schon länger bestehende Regelung, dass in der Gruppenphase bei Punktgleichheit der direkte Vergleich zähle, sorgte dank des gut ausgearbeiteten Spielplans dafür, dass gleich drei Gruppensieger schon vor dem letzten Spiel feststanden, weswegen sie entsprechend mit einer B- bis C-Mannschaft (Oma der Nachbarin des Busfahrers) aufliefen. Andererseits gab es so in jeder Gruppe ein Endspiel um den zweiten Tabellenplatz. Das zwischen der Türkei und Tschechien schrieb Fußballgeschichte, als die Tschechen es in den letzten Spielminuten nicht schafften, den Ball auch nur in die Nähe des türkischen Tores zu schlagen, in dem seit der roten Karte gegen den türkischen Torwart ein Feldspieler stand. Außerdem gab es noch eine gelbe Karte für einen Ersatzspieler auf der Bank.

Die WM 2006 hatte den unverdienten Elfmeter der Italiener (ja, ich weiß, dass das ein Pleonasmus ist) gegen die Australier und die drei gelben Karten gegen Josip Simunic in einem Spiel, ist mir aber sonst nicht durch größere Schiedsrichter-Inkompetenzen in Erinnerung geblieben. Diesmal war es anders: die Fehlentscheidungen häuften sich und bei manchen Szenen fragte man sich, ob man – so das wirklich die Elite der europäischen Unparteiischen sein sollte – in Zukunft bei einer EM nicht besser Kollegen aus Trinidad und Tobago einfliegen sollte. Gab es vor Spielen Geschrei um die Nationalität eines Schiedsrichters (der Deutsche bei Spanien – Italien, der Schweizer bei Deutschland – Türkei, der Italiener im Finale), gaben sich diese größte Mühe, die Bedenken zu zerstreuen, in dem sie konsequent gegen die von ihnen vermeintlich bevorzugte Mannschaft pfiffen. Nur beim Handspiel Lehmanns an der Strafraumlinie bei erschöpftem Auswechselkontingent zwanzig Minuten vor Schluss kam den Deutschen mal die Inkompetenz des Schiri-Gespanns entgegen.

Der Tiefpunkt war da freilich schon lange erreicht gewesen: die Verbannung beider Trainer auf die Tribüne im Spiel Österreich – Deutschland war eine gefährliche Mischung aus den Ego-Problemen des sogenannten vierten Offiziellen und der Unentspanntheit des spanischen Schiedsrichters. Die UEFA bewies Humor, indem sie beide Trainer für je ein Spiel sperrte und eben jenen Spanier im Viertelfinale gegen Portugal als vierten Mann aufstellte. Wo er dann auch kurz davor stand, wenigstens den portugiesischen Trainer auf die Tribüne schicken zu lassen.

Immerhin eine Schiedsrichter-Entscheidung blieb positiv in Erinnerung: im Spiel Holland – Italien wusste der Schiedsrichter, dass das vermeintliche Abseitstor keines war (also kein Abseits, ein Tor war es ja sehr wohl).

Fernsehen
Schlimmer als Schiedsrichter und Deutsche waren immerhin noch die Leute, die uns den Fußball ins Haus bringen: es ging gar nichts. Nichts.

Béla Réthy, von den Printkollegen merkwürdigerweise immer über den grünen Klee gelobt, nervt nur. Er redet in einem fort, nur als im Halbfinale plötzlich das Bild ausfiel und man auf sein Gequassel angewiesen war, wurden seine Sätze knapper. Tom Bartels kann selbst Fußballkrimis zum Sandmännchen degradieren, so dass man gestern Angst haben musste, die deutschen Spieler hätten versehentlich seinen Kommentar aufs Ohr bekommen und seien deshalb so müde. Steffen Simon ist einer dieser Menschen, die beim Italiener “brusketta” und “jnokki” bestellen, weil sie mal ein Semester in der Volkshochschule waren. Besonders peinlich wurde es immer dann, wenn er einen ausländischen Namen zum gefühlt hundertsten Mal vorgeturnt hatte, und man anschließen den muttersprachlichen Stadionsprecher etwas ähnliches, aber doch ganz anderes sagen hörte. Wie wohltuend bodenständig war dagegen Wolf-Dieter Poschmann, der alles so aussprach wie man’s schreibt.

Beckmann und Kerner gehen per se nicht, in keiner Rolle und auf keinem Sender, mit Netzer und Delling sollte langsam auch mal gut sein, Jürgen Klopp ist mir unsympathisch. Urs Meyer geht, der großartige Mehmet Scholl kam bei Beckmann (s.o.) nicht wirklich zur Entfaltung. Monika Lierhaus wirkte bei den Trainerinterviews immer wie Kai Diekmann bei der Papstaudienz (außer in dem unpassenden Moment, wo sie endlich mal journalistisch wirken wollte) und Katrin Müller-Hohenstein … ach ja. Als ich es einmal nicht mehr aushielt mit Béla Réthy und im Radio weiterhören wollte, war dort grad Sabine Töpperwien am Mikrofon und relativierte wieder einiges, wenn auch nicht alles, was ich schlechts über Réthy zu sagen hätte.

Es sei an dieser Stelle nur noch einmal darauf hingewiesen: diese Kommentatoren, Moderatoren und sonstigen Sportjournalistendarsteller werden von uns allen bezahlt. Gutes Personal ist halt schwer zu finden.

Die Fans
Was soll das eigentlich mit diesem “Schland” und wann und wo hat das angefangen? An die Beflaggung von Wohnhäusern und Automobilen hat man sich zwei Jahre nach der Geburt des “positiven Patriotismus” inzwischen gewöhnt, die Reichsparteitagsverweise sind längst nur noch Brauchtum und Ironie.

Wie undogmatisch die Deutschen sind zeigte sich immer wieder, wenn die gleichen Leute, die morgens beim “Bild”-Kauf über die Benzinpreise jammerten, Abends beim Autokorso (nach dem Österreich-Spiel!) den Gegenwert eines Finaltickets in den Innenstädten verbrannten. Auch die Boulevardpresse schaffte diesen Spagat, indem sie vor dem Halbfinale gegen die Türkei gleichzeitig zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufrief und für die kommende Nacht bürgerkriegsähnliche Zustände voraussagte.

Das Coffee-And-TV-Redaktionsteam bewies seine große Fußballkompetnz, indem es sich vor dem Eröffnungsspiel mit Fahnen eindeckte, die allesamt zum Ende der Vorrunde eingeholt werden konnten: Schweden, Griechenland und die Schweiz spielten ungefähr so gut, wie wir tippten. In der familieninternen Tipprunde musste ich mich nicht nur meinem Bruder, sondern auch meinen Eltern und meiner Schwester geschlagen geben. Aber als Borussia-Mönchengladbach-Fan ist man leiden gewohnt.

So geht’s weiter …
Am 9./10. August startet der DFB-Pokal, eine Woche später die Bundesliga. Mönchengladbach ist wieder da, wo es hingehört, der MSV Duisburg auch.

Die Nationalmannschaft wird sich für die WM 2010 qualifizieren und wenn sie da plötzlich die Leistungen aus so manchen Qualifikationsspielen und dem EM-Viertelfinale wiederholen, könnte das schon was werden. Außerdem spricht 2006: 3., 2008: 2. für 2010: 1. Die einzige Alternative wäre eine goldene Generation im deutschen Team: wie die Portugiesen immer schön spielen und Favorit sein, es dann aber nie schaffen. Die Rolle des ewig erfolglosen Geheimfavoriten ist seit gestern Abend unbesetzt.