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Musik

Kinder, die Charts sind gar nicht so schlimm!

Vor genau einem Jahr hat­te das taz-Pop­b­log über die „schlech­tes­ten Charts aller Zei­ten“ berich­tet – und für­wahr: mit Schnuf­fel auf 1, 3 mal DJ Ötzi und 2 mal De Höh­ner in den Top 20 klang das tat­säch­lich eher nach der irren Phan­ta­sie eines akus­ti­schen Sadis­ten als nach irgend­was, was ent­fernt mit Musik zu tun gehabt hät­te.

Neu­lich stieß ich dann ver­se­hent­lich beim Zap­pen auf eine Viva-Sen­dung, in der fünf okay bis groß­ar­ti­ge Songs hin­ter­ein­an­der lie­fen: „Human“ von den Kil­lers, „Allein allein“ von Polar­kreis 18, „Hot N Cold“ von Katy Per­ry, „Dance With Some­bo­dy“ von Man­do Diao und „Bro­ken Strings“ von James Mor­ri­son und Nel­ly Fur­ta­do. Wie sich her­aus­stell­te, hat­te ich gera­de die Top 5 der deut­schen Sin­gle­charts gese­hen.

Die deutschen Single- und Albumcharts.

Dass all das, was mal „Indie“ war, inzwi­schen Main­stream ist, wis­sen wir spä­tes­tens seit Cold­play, My Che­mi­cal Romance und Franz Fer­di­nand. Trotz­dem war ich hoch­gra­dig über­rascht, als im ver­gan­ge­nen Herbst „Allein allein“ über Wochen Platz 1 der deut­schen Charts blo­ckier­te. Gewiss: Der Mar­ke­ting­auf­wand (Trai­ler­mu­sik für das „TV Total Turm­sprin­gen“ und „Kra­bat“, mas­si­ver Air­play bei MTVi­va) war hoch gewe­sen, hat­te sich aber offen­bar aus­ge­zahlt und aus dem eins­ti­gen Indie-Geheim­tipp Polar­kreis 18 qua­si über Nacht eine gro­ße Num­mer gemacht, die beim „Bun­des­vi­si­on Song Con­test“ prompt Platz 2 hin­ter dem unein­hol­ba­ren Peter Fox beleg­te. ((Wenn ich bei den Recher­chen nichts über­se­hen habe, war „Allein allein“ übri­gens der ers­te Num­mer-Eins-Hit einer deut­schen, aber eng­lisch­spra­chi­gen Band seit „Wind Of Chan­ge“ 1991 „Lemon Tree“ 1996 – trotz sei­nes deut­schen Titels.))

Man­do Diao schlu­gen mit „Dance With Some­bo­dy“ auf Platz 3 der deut­schen Sin­gle­charts ein und gin­gen dann auf 2, wo sie sich seit fünf Wochen hal­ten, wäh­rend ihr Album „Give Me Fire“ wie selbst­ver­ständ­lich auf Platz 1 lan­de­te. Zwar wer­den sie ver­mut­lich nächs­te Woche von U2 ver­drängt wer­den, aber mit Peter Fox, Bruce Springsteen und Mor­ris­sey sieht es auf den fol­gen­den Rän­gen auch gar nicht so schlecht aus. Lily Allen steht plötz­lich in den deut­schen Top 20, die Kil­lers schaff­ten es mit „Day & Age“ auf Platz 8 – und lagen damit zwei Plät­ze hin­ter der bes­ten Plat­zie­rung von „Sam’s Town“.

Völ­lig gro­tesk wird es, wenn man sich das Track­lis­ting der aktu­el­len „Bra­vo Hits“ ((Num­mer 64, that is.)) ansieht: Man­do Diao, The Kil­lers, Razor­light, Snow Pat­rol, Cold­play, Franz Fer­di­nand, Kings Of Leon, MGMT, Deich­kind, Ingrid Micha­el­son und Peter Fox tum­meln sich da zwi­schen Queens­ber­ry, Brit­ney Spears, The Ras­mus und Sido. ((Wun­dern Sie sich aber nicht zu stark: auf „Bra­vo Hits 52“ waren Tom­te und Wir Sind Hel­den ver­tre­ten.))

Hat die Jugend plötz­lich Musik­ge­schmack ((Also das, was wir als arro­gan­te Musik­snobs mit „Musik­ge­schmack“ gleich­set­zen: unse­ren.)) oder ist irgend­was ande­res pas­siert?

Ver­mut­lich han­delt es sich um eine Mischung aus Bei­dem: Wäh­rend sich Tei­le der Jugend Songs ent­we­der an den Zähl­wer­ken von Media Con­trol vor­bei beschafft oder als Klin­gel­ton kauft, ((Bit­te wer­fen Sie einen Blick in die Klin­gel­ton­charts, um rasch auf den har­ten Boden der Tat­sa­chen zurück­zu­keh­ren!)) kau­fen ein ande­rer Teil und vie­le älte­re Men­schen – wobei ich in die­sem Fall schon zu den „Älte­ren“ gehö­re – plötz­lich Man­do-Diao-Sin­gles bei iTu­nes und ver­schafft den Schwe­den somit mal eben einen Platz knapp hin­ter der Chart­spit­ze.

Treue Fans kau­fen nach wie vor die Alben ihrer Lieb­lings­bands (wes­we­gen Tom­te in der ers­ten Woche auf Platz 9 der Album­charts knal­len), Musik­fern­se­hen gibt es in Deutsch­land ja eh kei­nes mehr, die Haupt­ver­brei­tungs­ka­nä­le für neue Musik hei­ßen You­Tube und MySpace, zahl­rei­che eher alter­na­ti­ve Acts lau­fen im Radio rauf und run­ter, und so kommt eines zum Ande­ren und am Ende sehen die Charts eben aus, als habe jemand den Indie-Bal­ler­mann über den Top 10 aus­ge­gos­sen.

Wobei wir uns da nicht ver­tun soll­ten: Man­do Diao erschie­nen schon immer bei einem Major (frü­her EMI, jetzt Uni­ver­sal), Lily Allen hat­te schon bei einer EMI-Toch­ter unter­schrie­ben, als ihr MySpace-Hype los­ging, und von den „ech­ten“ Indie-Acts ver­kau­fen nicht mal gro­ße Namen wie …And You Will Know Us By The Trail Of Dead in Deutsch­land viel mehr als 10.000 Exem­pla­re. Das mit der Nach­wuchs­för­de­rung ist hier­zu­lan­de nach wie vor Glücks­sa­che und leben kön­nen die aller­we­nigs­ten Musi­ker von ihrer Musik allein.

Aber für den Moment kön­nen wir uns ja ein­fach mal freu­en, wenn die Charts mal nicht die schlech­tes­ten aller Zei­ten sind.

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Musik Unterwegs

Haldern-Liveblog (Freitag)

17:00 Uhr: Was bis­her geschah: Ich wur­de heu­te Mor­gen wach und – die Son­ne schien. Aus Dank­bar­keit opfer­ten wir Petrus eine Packung „Sau­re Apfel­rin­ge“ (Hald­ern-Tra­di­ti­on #2) und früh­stück­ten aus­gie­bigst in der Son­ne. Ich weiß, ich wer­de einen Son­nen­brand bekom­men.

Die ers­te Band, die ich mir im ange­guckt habe, waren die Bra­kes („like on your bike“) im Spie­gel­zelt. Die Band sieht anders aus als ich sie mir vom Klang ihrer Musik her vor­ge­stellt hät­te, und hat Ananäs­se auf ihren Ver­stär­kern ste­hen, die sie wäh­rend des Kon­zerts ins Publi­kum schmeißt. Musik machen sie auch: schröm­me­li­ger Indie­rock trifft auf Coun­try-Anlei­hen, die im Cover­song „Jack­son“ (den ken­nen Sie aus dem John­ny-Cash-Film) kul­mi­nie­ren.

Dann geht’s aufs Fes­ti­val-Gelän­de, das allein schon dadurch besticht, dass die Büh­ne anders steht als sonst. Sie steht … nun ja: leicht schräg. Wer schon mal auf dem Hald­ern war und sich das Fes­ti­val-Gelän­de als Uhr vor­stel­len kann, ima­gi­nie­re sich jetzt bit­te, die Büh­ne sei von zwölf auf ein Uhr vor­ge­rückt, wobei sie immer noch auf den Mit­tel­punkt des Uhr­werks aus­ge­rich­tet ist. Alle ande­ren stel­len sich bit­te vor, dass da eine gro­ße Büh­ne auf einem Reit­platz steht, das reicht.

Der sym­pa­thisch-ver­plan­te Hol­län­der, der seit (I assu­me) 1984 das Pro­gramm ansagt, betritt die Büh­ne und kün­digt in gewohn­tem Über­schwang Ripchord an. Die Band erin­nert aus der Fer­ne (schließ­lich will das Pres­se­zelt inspi­ziert wer­den) ein biss­chen an Man­do Diao und die Liber­ti­nes. Und das ist ja wohl mal eine prä­zi­se Ansa­ge, denn wel­che Band klingt heut­zu­ta­ge schon so? Na gut …

Gera­de stehen/​steht Gabri­el Rios auf der Büh­ne und alles, was hier ankommt, sind ein Bass und eine Bass­drum. Des­we­gen wer­de ich nun hin­aus in den Matsch eilen und ein Ohr auf das Gesche­hen wer­fen, damit ich hin­ter­her schrei­ben kann, wie es wirk­lich klang.

Vor­her muss ich noch die ers­ten Ver­let­zun­gen im Team ver­mel­den: Kat­ti hat sich den Nagel ihres dicken Zehs ein­ge­ris­sen (hier zuck­ten grad 85% der Leser zusam­men und schwo­ren sich, so ein Ekel­b­log nie wie­der zu besu­chen) und ich habe mir (weit weni­ger schlimm) die Son­nen­bril­le, die ich extrem läs­sig ins Haar gesteckt hat­te, aufs Nasen­bein gedon­nert. Und jetzt muss ich wirk­lich los, denn Björn vom Hald­ern-Blog ist gera­de hin­ter mir auf­ge­taucht und jetzt wol­len wir ein wenig plau­dern und Bru­der­schaft trin­ken. Oder irgend­wie sowas.

18:05 Uhr: Bis ich auf dem Platz war, war/​waren Gabri­el Rios schon vor­bei. So blei­ben mir nur die Ricky-Mar­tin-mäßi­gen Ein­drü­cke, die im Pres­se­zelt anka­men.

Viel­leicht hät­te man eine Band wie Polar­kreis 18, die mit geschätz­ten zwei­und­vier­zig Instru­men­ten agiert, nicht unbe­dingt mit­ten in den Nach­mit­tag legen sol­len. Jetzt hinkt der Zeit­plan. Dafür gibt es gera­de die „deut­schen Radio­head“, was dann zutref­fend wäre, wenn Radio­head bedeu­tend mehr tanz­ba­re Tracks wie „Idio­te­que“ ver­öf­fent­licht hät­ten. Man möch­te fast ein Kraut­rock-Revi­val aus­ru­fen, aber Dres­den ist eine so Kraut­rock-unty­pi­sche Stadt (sie liegt, zual­ler­erst, nicht am Rhein).

Der WDR fährt mit sei­nen Rock­pa­last-Kame­ras die gan­ze Zeit vor der Büh­ne her­um und ver­sperrt dem Publi­kum und den Foto­gra­fen die freie Sicht auf die Büh­ne. Das könn­te rich­tig ärger­lich sein, aber das Publi­kum sieht nicht so aus, als ob es das mit den Rund­funk­ge­büh­ren son­der­lich genau näh­me. Und Leu­te, die man nicht bezahlt, kann man ja kaum anschrei­en, sie mögen einem bit­te aus dem Sicht­feld tre­ten.

Was man auf kei­nen Fall uner­wähnt las­sen soll­te: Son­ne! Son­ne!! Soooooonneeeeeee!!!!1

19:15 Uhr: Von Paul Steel und Band habe ich nicht viel mit­be­kom­men, weil ich zeit­gleich The Elec­tric Soft Para­de inter­viewt habe. Ich glau­be, ich hät­te die Musik „nett“ gefun­den. Nett waren aber auch die Gebrü­der White, wes­we­gen sich das schon gelohnt hat, so wie’s war. Die Tat­sa­che, dass ich den alten Kin­der­kas­set­ten­re­cor­der mei­nes Bru­ders als Auf­nah­me­ge­rät mit­ge­bracht habe, war jeden­falls ein Super-Eis­bre­cher, denn wie fin­den jun­ge Män­ner, die ver­spiel­te Pop­mu­sik machen, so ein Teil? „Cool, old school!“

19:58 Uhr: Wer hat dem Pudel die Gitar­re um den Hals gebun­den? Ach nee, das ist nur Kyle Fal­co­ner, der lockich­te Sän­ger von The View, der sei­ne Gitar­re noch ein biss­chen höher trägt als John­ny Cash. Zu beein­träch­ti­gen scheint es ihn nicht, denn er und sei­ne Band pflü­gen gera­de durch ein Set vol­ler schwung­vol­ler Indie­rock-Kra­cher, die immer mal wie­der rhyth­misch an der Tür klop­fen, auf der „Pol­ka“ steht. Die Indiepe­dia sagt, der Schlag­zeu­ger sei mal mit Pete Doh­erty ver­haf­tet wor­den. Rei­fe Leis­tung. Und unge­fähr so schwie­rig wie Angeln in einem Fass vol­ler Fische.

20:57 Uhr: Ein jun­ger Mann, der aus­sieht wie Gary Old­man in Sid And Nan­cy, kommt auf die Büh­ne, rotzt zwei­mal auf sel­bi­ge und legt mit sei­ner Band los. Klin­gen tut’s aber eher wie The Clash, wenigs­tens so unge­fähr. Live klingt Jamie T bedeu­tend weni­ger nach Hip-Hop, als auf Plat­te, ich mei­ne trotz­dem, einen süß­li­chen Geruch in der Luft zu ver­neh­men.

21:40 Uhr: Gera­de war ich am Zelt, mei­nen Pul­li holen. Dabei konn­te ich eine Hald­ern-typi­sche Sze­ne beob­ach­ten: Ein älte­res Ehe­paar aus der Nach­bar­schaft ging in ordent­li­cher Klei­dung am Zelt­platz vor­bei – offen­bar um „mal zu gucken, was die jun­gen Leu­te so machen“. Sie gesell­ten sich zu einer Grup­pe am Bier­stand und plau­der­ten los.

Fol­gen­de Musik habe ich auf dem Zelt­platz hören kön­nen (unvoll­stän­dig): Max Mutz­ke, Red Hot Chi­li Pep­pers, The Fratel­lis, Bap, Led Zep­pe­lin, The Sounds, Kai­ser Chiefs. Unan­ge­foch­te­ner Fes­ti­val-Hit dürf­te aber „Tonight I Have To Lea­ve It“ von den Shout Out Louds wer­den. Zu recht.

22:15 Uhr: Noch mehr idio­ti­sche Optik-Ver­glei­che: The Magic Num­bers sehen ein biss­chen aus wie die Kel­ly Fami­ly. Sie machen durch­aus net­te Pop­mu­sik, die das inzwi­schen nächt­li­che Fes­ti­val­ge­län­de durch­weht. Es könn­te auch Rock­pa­last 1978 auf der Lore­ley sein.

Man soll­te auch mal anmer­ken, dass das Publi­kum zwar in Indie-Uni­for­men erschie­nen ist (If I had one Dol­lar for every pol­ka dot …), aber in der Gesamt­heit recht gut aus­se­hend ist (nur knapp hin­ter den immer beson­ders hüb­schen Publi­ka von Tra­vis und Slut). Ich glau­be schon, dass manch einer hier den Part­ner fürs Leben fin­den könn­te.

Sams­tag, 00:31 Uhr: Auf der Büh­ne sitzt grad Jason Pier­ce und buch­sta­biert Gän­se­haut. Mit sei­nem Key­boar­der, einem Streich­quar­tett und einem (drei­köp­fi­gen) Gos­pel­chor sind das die „Acou­stic Main­li­nes“ sei­ner sons­ti­gen Band Spi­ri­tua­li­zed. Es mag sein, dass das Feen­staub ist, der da durch die Nacht fliegt – viel­leicht sind es auch nur die Über­res­te der Mot­ten, die den Schein­wer­fern zu nahe gekom­men sind. Die Leu­te, die bei die­ser Musik noch quat­schen, möch­te man am liebs­ten schüt­teln und anschrei­en: „Ruhe, da vor­ne stirbt jemand!“ Nun ja, ster­ben wird Jason Pier­ce heu­te Nacht nicht, aber so oft wie er „Lord“ und „Jesus“ singt, fühlt man sich ein wenig, als höre man jeman­dem ver­bo­te­ner­wei­se beim Beten zu. Ein­fach schön.

Nach­trag Sams­tag, 14:58 Uhr: Eigent­lich woll­te ich mir ges­tern Nacht noch The Elec­tric Soft Para­de angu­cken. Ich hat­te es den Gebrü­dern White sogar im Inter­view ver­spro­chen. Aber als ich vom Platz kam, war die Schlan­ge vor dem viel zu klei­nen Spie­gel­zelt schon so lang, dass abseh­bar war, dass die Per­son, die in der Schlan­ge vor mir gestan­den hät­te, als letz­te rein­ge­kom­men wäre. Ich fin­de das nach wie vor unglück­lich mit die­sem Zelt, zumal wenn auch noch zeit­gleich auf der Haupt­büh­ne Pro­gramm ist. Ent­schei­den-müs­sen oder Nicht-rein­kom­men ist Rock am Ring, aber nicht Hald­ern.

So gab’s dann wenigs­tens im (eige­nen) Zelt noch The Water­boys aus wei­ter Fer­ne. Aus so wei­ter Fer­ne, dass nur noch eine Ahnung von Songs ankam. Die war aber durch­aus nett.