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Musik Unterwegs

Bochum Total 2009

In den letz­ten Tagen war Bochum mal wie­der der Mit­tel­punkt irgend­ei­ner Welt – mut­maß­lich der Musik­welt Nord­rhein-West­fa­lens. Jeden­falls war Bochum Total und aus mir selbst nicht ganz nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den woll­te ich mög­lichst viel davon mit­krie­gen.

Ort der Gegensätze: Bochum Total

Vier Tage, 60 Bands, hun­dert­tau­sen­de Liter Bier und noch ein biss­chen mehr Regen­was­ser – eine per­sön­li­che Doku­men­ta­ti­on:

Don­ners­tag, 2. Juli

Man kann nicht behaup­ten, ich sei schlecht vor­be­rei­tet gewe­sen: Cen­ti­me­ter­dick hat­te ich Son­nen­creme auf­ge­tra­gen, um eine zer­fetz­te Nase wie nach mei­nem Nord­see-Urlaub zu ver­mei­den. Ich hat­te eine Son­nen­bril­le auf, die nicht nur unge­fähr­de­tes fas­sungs­lo­ses Anstar­ren bizarr geklei­de­ter Men­schen ermög­lich­te, son­dern auch derbs­te Gewit­ter­tier­chen-Schwär­me davon abhielt, mir in die Augen zu flie­gen. War­um das alles nur halb­gut vor­be­rei­tet war, lesen Sie gleich …

Mintzkov beim Bochum Total 2009

Mintz­kov (Ring-Büh­ne)
Wenn ich an Fes­ti­vals den­ke, den­ke ich erst­mal grund­sätz­lich ans Hald­ern Pop, das ein­zi­ge Fes­ti­val, das ich jedes ver­damm­te Jahr besu­che (im August zum zehn­ten Mal in Fol­ge) und das in mei­ner wun­der­schö­nen nie­der­rhei­ni­schen Hei­mat statt­fin­det. Sehr nett also, dass es in Bochum mit einer ech­ten Hald­ern-Band los­ging, denn Mintz­kovs aktu­el­les Album ist auf dem Hald­ern-Pop-Label erschie­nen. Auch musi­ka­lisch klin­gen die fünf Bel­gi­er sehr nach Hald­ern: Upt­em­po-Indie­rock mit etwas brat­zi­gen Gitar­ren. (Wür­de Ihnen „bel­gisch eben“ wei­ter­hel­fen?)

Tommy Finke beim Bochum Total 2009

Tom­my Fin­ke (Ring-Büh­ne)
Nach so viel Hald­ern ging’s dann sehr kon­kret zurück nach Bochum: Tom­my Fin­ke, Lokal­ma­ta­dor und Sze­ne­grö­ße, hat­te ein ech­tes Heim­spiel (aus der Rei­he: „Dum­me Fuß­ball­me­ta­phern für hilf­lo­se Musik­jour­na­lis­ten“). Alte Hits wie „1000 Mei­len“ oder „Bier And Loathing In Las Vegas“ wur­den groß gefei­ert, neue Stü­cke wie „Stop The Clocks“ erhö­hen die Vor­freu­de aufs neue Album „Poet der Affen“. Bei allem Respekt vor Her­bert Grö­ne­mey­er: So lang­sam wird es mal Zeit, dass jemand neu­es die Bochu­mer Fah­ne im Deutsch­pop spa­zie­ren trägt.

Schon wäh­rend des Auf­tritts war ein ver­däch­tig wir­ken­der kal­ter Wind auf­ge­kom­men, aber ich warf mich mit einem mei­ner bes­ten Freun­de lie­ber erst mal ins Getüm­mel – Men­schen gucken und Bier trin­ken. Als wir gera­de an einer stra­te­gisch sehr guten Posi­ti­on an einem Brat­wurst­stand ange­kom­men waren, taten sich dann die Schleu­sen auf und die Inhal­te zwei­er Ost­seen (meteo­ro­lo­gisch gewag­te Schät­zung: Cof­fee And TV) ergos­sen sich bin­nen weni­ger Minu­ten über die Bochu­mer Innen­stadt.

Mittelschweres Unwetter bim Bochum Total 2009

Die Vik­to­ria­stra­ße ver­wan­del­te sich in eine Art Fluss, der eine Fließ­ge­schwin­dig­keit auf­wies, die den Dins­la­ke­ner Rot­bach (eine Art ste­hen­des Fließ­ge­wäs­ser) sehr, sehr alt aus­se­hen ließ. Über­all war Regen – ger­ne auch waa­ge­recht in der Luft und aus allen Rich­tun­gen gleich­zei­tig kom­mend.

Nach weni­gen Minu­ten war der Spuk vor­bei und alle waren nass bis auf die Haut. Eigent­lich hät­ten wir uns jetzt bequem Jen­ni­fer Ros­tock auf der Eins-Live-Büh­ne anschau­en kön­nen (so aus rei­ner Neu­gier), aber als es dann schon wie­der zu reg­nen anfing, erschien uns das Kon­zept „Woh­nung“ dann doch als das ein­la­den­de­re. Der Auf­tritt von Jen­ni­fer Ros­tock wur­de übri­gens abge­bro­chen, als ein Licht­trä­ger umfiel und den Key­boar­der leicht ver­letz­te.

Frei­tag, 3. Juli

Als ich wie­der in die Innen­stadt fuhr, lag eine Kater­stim­mung über den Besu­chern, die man sonst nur vom letz­ten Tag eines ech­ten (also mit Cam­ping und Dosen­ra­vio­li ver­bun­de­nen) Fes­ti­vals kennt. Es hat­te den gan­zen Tag über immer mal wie­der gereg­net, aber vor­erst war es tro­cken. Die drü­cken­de Hit­ze des Vor­tags war weg, aber irgend­wie war klar, dass es noch eine Zuga­be geben wür­de …

The Black Sheep beim Bochum Total 2009

The Black Sheep (Eins-Live-Büh­ne)
Die­se Band aus Köln hat­te ich mal durch Zufall im „Rock­pa­last“ gese­hen und für gar nicht so schlecht befun­den. Gera­de die ruhi­ge­ren, an K’s Choice erin­nern­den Stü­cke, hat­ten es mir ange­tan. Mit sowas war bei einem Open Air auf der Haupt­büh­ne natür­lich eher nicht zu rech­nen. Beim Sound­check war ich etwas in Sor­ge, dass die vier jun­gen Frau­en gna­den­los unter­ge­hen könn­ten – so Schü­ler­band-mäßig ver­huscht spiel­ten sie an ihren Instru­men­ten rum. Aber als sie rich­tig los­leg­ten, hat­ten sie das doch recht gro­ße Publi­kum bald unter Kon­trol­le. Der Sound war aus­ge­spro­chen satt, musi­ka­lisch erin­ner­te eini­ges an Die Hap­py, die frü­he Avril Lavi­gne und ein biss­chen an The Sounds. Nicht unbe­dingt das, was ich mir zuhau­se regel­mä­ßig auf Plat­te anhö­ren wür­de (und ein­zeln kann man die Songs bei iTu­nes lei­der nicht kau­fen), aber live durch­aus nett anzu­hö­ren (na ja: und anzu­se­hen). Funk­tio­niert im Club bestimmt noch ein biss­chen bes­ser als auf einer so gro­ßen Büh­ne.

Nach einer hal­ben Stun­de war dann lei­der schon wie­der Schluss, denn das nächs­te Unwet­ter stand bereit und zwang auf allen Büh­nen zur Unter­bre­chung. Fast schon rou­ti­niert stell­ten sich die Leu­te unter Bier­stän­den, Vor­dä­chern (von denen Bochum defi­ni­tiv zu weni­ge hat) und in U‑Bahn-Sta­tio­nen unter und war­te­ten ab. Zwar ging der Regen auch dies­mal wie­der waa­ge­recht um Haus­ecken, aber die Fluss­bil­dung auf den Haupt­stra­ßen blieb aus. Trotz­dem schlepp­te ich mich nach hau­se, wur­de auf dem Weg von der U‑Bahn zur Woh­nung noch mal rich­tig schön nass und guck­te dann nach einer hei­ßen Dusche aus mei­nem Fens­ter für den Rest des Abends auf einen zwar nicht strah­lend blau­en, aber doch sehr Unwet­ter-armen Him­mel. Auf The Par­lo­to­nes und Hell­songs hab ich dann aber doch ver­zich­tet.

Sams­tag, 4. Juli

Atomic beim Bochum Total 2009

Ato­mic (Heinz-Büh­ne)
Aus der Rei­he „Bands, deren Namen ich schon hun­dert­mal gehört, gele­sen und emp­foh­len bekom­men habe, mit denen ich mich aber noch nie näher beschäf­tigt habe“: Ato­mic aus Bay­ern. Eine Band, die seit neun Jah­ren Brit­pop macht, also ziem­lich genau seit der Zeit, als Brit­pop offi­zi­ell tot war („Stan­ding On The Should­er Of Giants“, die ganz Alten und Oasis Ultras wer­den sich erin­nern). Und sie machen das gar nicht schlecht: Ein biss­chen Kinks, ein biss­chen Stone Roses, ein biss­chen Char­la­tans und Oasis. Die pas­sen­de Musik, um bei einem küh­len Bier im Schat­ten den drit­ten Total-Tag zu begin­nen.

Miss­in­Cat (WAZ-Büh­ne)
Drei Songs die­ser ita­lie­nisch-stäm­mi­gen Sin­ger-Song­wri­te­rin haben wir uns noch gege­ben. Zu wenig, um sich ein ech­tes Urteil erlau­ben zu kön­nen, aber es war durch­aus nett im bes­ten Sin­ne. Ent­spannt, unspek­ta­ku­lär, aber char­mant. Zur Wie­der­vor­la­ge geeig­net.

Auletta beim Bochum Total 2009

Aulet­ta (Eins-Live-Büh­ne)
Nor­ma­ler­wei­se schril­len bei mir alle Alarm­glo­cken, wenn ein Major eine deutsch­spra­chi­ge Band als „Top-The­ma“ an den Mann brin­gen will: Erin­ne­run­gen an Pan­da wer­den wach, das gro­ße Abschrei­be­ob­jekt von Uni­ver­sal, an Kar­pa­ten­hund, die Band mit der einen guten Sin­gle und dem maxi­ma­len Auf­wand von Vir­gin. Jetzt also sind Aulet­ta aus Mainz für EMI im Ren­nen – teil­wei­se ange­prie­sen als „Franz Fer­di­nand mit deut­schen Tex­ten“.

Das stimmt nicht: Musi­ka­li­sche erin­nert fast alles an Man­do Diao, ein biss­chen noch an The Kooks. Ich weiß nicht, ob ich mir die Band unbe­dingt auf Plat­te anhö­ren wür­de, aber live funk­tio­niert ihre Musik erstaun­lich gut. Nach ein paar Minu­ten wichen die ein­ge­üb­ten Rock­star-Posen dann auch der auf­rich­ti­gen Freu­de über die Begeis­te­rung des Publi­kums. Sowas kommt dann wie­der­um bei den Zuschau­ern gut an und alle sind glück­lich. (Die For­mu­lie­rung „sym­pa­thi­scher als 1000 Robo­ta“ habe ich wie­der gestri­chen, weil sie nahe­zu all­ge­mein­gül­tig ist.)

Stagediving zu Jupiter Jones beim Bochum Total 2009

Jupi­ter Jones (Eins-Live-Büh­ne)
Mein fünf­tes Jupi­ter-Jones-Kon­zert, das drit­te beim Bochum Total. Nicht ohne Stolz und Ver­wun­de­rung erzähl­te Sän­ger Nicky dann auch gleich, dass man jedes Mal auf der nächst­grö­ße­ren Büh­ne spie­len durf­te – so gese­hen bräuch­te man eigent­lich in zwei Jah­ren eine neue Haupt­büh­ne. Mit vie­len Songs von ihrem neu­en, wie­der sehr gelun­ge­nen Album „Holi­day In Cata­to­nia“ konn­te das Quar­tett aus der Eifel zei­gen, wie viel Ener­gie sie so live ver­sprü­hen kann. Wie gut das alles ankam zeigt sich schon dar­an, dass die Band ent­ge­gen aller Plä­ne und Abspra­chen noch eine Zuga­be spie­len durf­te, in die sich Eins-Live-Urge­stein und Ansa­ger Mike Litt aller­dings auch ziem­lich blö­de selbst rein­ge­quatscht hat­te.

Jupi­ter-Jones-Akus­tik­vi­de­os aus Bochum gibt’s übri­gens bei den Kol­le­gen von Get Addic­ted.

Fire In The Attic (Eins-Live-Büh­ne)
„Och, so ’n biss­chen Hard­core könn­te man doch auch noch mit­neh­men“, sag­te ich zu mei­nen aus­wär­ti­gen Gäs­ten. Irgend­was sag­te mir der Band­na­me ja schließ­lich. Als Fire In The Attic los­leg­ten, bezeich­ne­te ich deren Musik als „amt­lich“ und hät­te sie mir allei­ne ver­mut­lich noch etwas län­ger ange­guckt, aber der Besuch woll­te drin­gend wei­ter.

Eter­nal Tan­go (Heinz-Büh­ne)
Die Alter­na­ti­ve aus Luxem­burg ver­moch­te uns dann aber auch nicht so wirk­lich zu begeis­tern: melo­di­scher zwar, aber im direk­ten Ver­gleich dann wie­der viel zu brav. Es klang nach Panic At The Dis­co und Fall Out Boy und da hät­te ich dann doch lie­ber wei­ter aus siche­rer Distanz die Auf-die-Fres­se-Bret­ter von Fire In The Attic genos­sen. Wir ent­schie­den uns letzt­lich für ein paar Bier in der Knei­pe.

Sonn­tag, 5. Juli

Silvester beim Bochum Total 2009

Sil­ves­ter (Eins-Live-Büh­ne)
Letz­ter Tag, viel zu lan­ge geschla­fen, nicht recht­zei­tig los­ge­kom­men, aber doch noch ziem­lich viel gese­hen von Sil­ves­ter. Die waren mir extra ans Herz gelegt wor­den und mit so einer Prä­mis­se guckt man Bands dann doch immer ganz anders. Sil­ves­ter haben eine Sän­ge­rin, die alle Songs geschrie­ben hat, und selbst Instru­men­te (näm­lich Gitar­re und Key­board) spielt – inso­fern ver­bie­ten sich Ver­glei­che mit Juli und Sil­ber­mond. Mit den ruhi­ge­ren, emo­tio­na­len Lie­dern von Wir Sind Hel­den hat die Musik von Nai­mi Huss­ei­ni dann schon mehr zu tun, aber ins­ge­samt ist das schon sehr eigen­stän­dig. Die Tex­te gehen mit­un­ter bis knapp unter­halb der Schla­ger­gren­ze, sind aber eher poe­tisch als pein­lich. Also irgend­wo in der Gegend von Gre­gor Meyle. Das Album ist noch nicht raus, lohnt aber sicher eine nähe­re Betrach­tung bei Erschei­nen.

Am Ran­de die­ses Auf­tritts erleb­te ich dann auch die schöns­te Anek­do­te die­ses Total-Jah­res: Ein Teen­ager, von vier Tagen Wet­ter und Alko­hol etwas in Mit­lei­den­schaft gezo­gen, schau­te ins Pro­gramm­heft und brüll­te fas­sungs­los: „Sil­ves­ter?! Wir haben Anfang Juli! Anfang Juli haben wir! Sil­ves­ter?!“ Sei­ne Freun­din leg­te ihm mit einem Blick, von dem ich dach­te, dass Frau­en ihn erst nach zwan­zig Jah­ren Ehe im Reper­toire haben, die Hand auf die Schul­ter.

CSSR (Café Zacher)
„Clash Songs Sligh­ty Raped“ – war­um das Fes­ti­val nicht mit einer Clash-Cover­band im Offs­ta­ge-Pro­gramm been­den? Nun ja, es war ganz nett, was diver­se loka­le Sze­nele­gen­den (so das Pro­gramm­heft, ich wohn doch erst fünf Jah­re hier) da aus Clash-Klas­si­kern und Joe-Strum­mer-Solo­sa­chen mach­ten, aber ihre Inter­pre­ta­ti­on von „Motor­cy­cle Emp­tin­ess“ (Manic Street Pre­a­chers) war dann doch eine Spur zu viel für mich.

Das Bochum Total ende­te für mich per­sön­lich dann mit einem Musik Quiz in der Sze­ne­knei­pe Frei­beu­ter, bei dem die Kol­le­gin Kath­rin den ehren­haf­ten zwei­ten Platz beleg­te. Im Gegen­satz zum Sie­ger­team hat sie übri­gens auf den Ein­satz von Musik­erken­nungs­soft­ware auf ihrem iPho­ne ver­zich­tet.

Fazit

Zum ers­ten Mal über­haupt war ich jeden Tag beim Bochum Total. Musi­ka­li­sche Offen­ba­run­gen blie­ben aus, aber es gab ein paar ganz span­nen­de neue Sachen zu sehen und zu hören. Von den Wol­ken­brü­chen am Don­ners­tag und Frei­tag kann ich ver­mut­lich mei­nen Enkeln noch erzäh­len (was die dann mit einem „Ja, Opa, das war vor dem Abschmel­zen der Pol­kap­pen!“ quit­tie­ren wer­den).

Natür­lich spielt beim Bochum Total die Musik für vie­le nur eine Neben­rol­le, aber gera­de den jün­ge­ren Zuschau­ern hat man ange­merkt, wie glück­lich die ein­fach waren, irgend­was live und laut sehen zu kön­nen, ohne dafür bezah­len zu müs­sen. Das Posi­ti­ve an so kom­mer­zi­el­len Groß­ver­an­stal­tun­gen ist ja auch, dass sie – im Gegen­satz zu alter­na­ti­ven Stadt­fes­ten in Ham­burg oder Ber­lin – eher sel­ten von ran­da­lie­ren­den Hor­den als Büh­ne für Kra­wall unter irgend­ei­nem Deck­man­tel miss­braucht wer­den. Ent­spre­chend fried­lich lief es auch dies­mal wie­der ab.

Das Schluss­wort soll aber dem Post Scrip­tum des Pro­gramm­hefts gebüh­ren – es ist ein­fach zu schön:

P.S. Bochum Total fin­det gegen den aus­drück­li­chen Wunsch und jedes Bemü­hen der GEMA wei­ter­hin statt […]