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Leben Gesellschaft

Nimm mich, holdes Marzipan

Werbeplakat am Union Square, San Francisco, CA (November 2006)

Es ist wie­der soweit: In den Super­märk­ten ste­hen Leb­ku­chen, Spe­ku­la­ti­us und Mar­zi­pan­kar­tof­feln zur Abho­lung bereit und die Men­schen ste­hen davor und sagen: „Guck mal, Heinz, es gibt schon wie­der Weih­nachts­ge­bäck!

Das wirft die Fra­ge auf, wo die­se Men­schen die letz­ten drei Wochen Ein­kau­fen waren, denn Weih­nachts­ge­bäck gibt es bereits seit Ende August wie­der zu kau­fen. Ich habe schon meh­re­re Pake­te Leb­ku­chen­her­zen, ‑ster­ne und ‑bre­zeln gekauft und die­se mit Freu­den ver­speist. Das Wet­ter passt, mir schmeckt das Zeugs ein­fach und ich habe als (noch) frei­er Bür­ger wenig Lust, mir von plan­wirt­schaft­lich ope­rie­ren­den Back­wa­ren­kon­zer­nen vor­schrei­ben zu las­sen, wann ich wel­che Art Gebäck ver­zeh­ren möch­te. Außer­dem gehe ich durch früh­zei­ti­gen Ver­zehr sicher, dass mir Prin­ten, Domi­no­stei­ne und Pfef­fer­nüs­se spä­tes­tens zu Niko­laus zum Hal­se raus­hän­gen und ich mich in der eigent­li­chen Weih­nachts­zeit voll und ganz auf den Ver­zehr fet­ter Bra­ten, dicker Klö­ße und haus­ge­mach­ter Apfel­kom­pöt­te kon­zen­trie­ren kann.

Da sich der Erst­ver­kaufs­tag der Weih­nachts­ge­bä­cke in den letz­ten Jah­ren nur mini­mal nach vor­ne ver­scho­ben haben dürf­te, besteht indes kein Grund, in die­sem Jahr wie­der Kolum­nen und Edi­to­ria­le mit dem Hin­weis zu fül­len, dass es ja schon im Sep­tem­ber Leb­ku­chen und Stol­len zu kau­fen gäbe und ob das nicht etwas früh sei. Die­ses The­ma ist so aus­ge­lutscht wie die Toma­ten­saft­glos­se der Neun­zi­ger Jah­re. Wenn Ihr irgend­was Wit­zi­ges „aus dem Leben“ ver­ar­bei­ten wollt, müsst Ihr wohl oder übel mal Eure Schreib­stu­ben ver­las­sen, lie­be Kol­le­gen, und mal eine Vier­tel­stun­de real life aus­che­cken. Super­markt­kas­sen sind da z.B. eine töf­te Inspi­ra­ti­ons­quel­le – aber bit­te nicht dar­über schrei­ben, dass man immer in der lang­sa­me­ren Schlan­ge steht!

Was mich am vor­weih­nacht­li­chen Geschäfts­ge­ba­ren irri­tiert, ist etwas völ­lig ande­res: Letz­tes Jahr fiel mir erst­mals auf, dass diver­se Mode­ket­ten und Ver­sand­häu­ser, aber auch Kaf­fee­rös­ter, etwa ab Novem­ber die Innen­städ­te mit leicht­be­klei­de­ten Frau­en zupla­ka­tier­ten. Auf rie­si­gen Pla­kat­wän­den und in Schau­fens­tern wur­de die Sor­te Damen­un­ter­wä­sche ange­prie­sen, die eigent­lich nur schreit „Hal­lo Schatz, sieh mal, ich hab mich hübsch gemacht und jetzt nimm mich, hol­der Recke!“ Mir war zuvor nie auf­ge­fal­len, dass Weih­nach­ten ein der­art pla­ka­tiv ange­gan­ge­nes Sex-Spek­ta­kel sein könn­te – auch wenn das erklä­ren wür­de, war­um so vie­le Freun­de von mir im Sep­tem­ber Geburts­tag haben.

Die­se Jahr, jeden­falls, schmü­cken die Push-Up-BHs, Hemd­chen, Hös­chen, Tan­gas, Hot Pants und Kor­sa­gen schon im Sep­tem­ber die Schau­fens­ter völ­lig seriö­ser Beklei­dungs­ge­schäf­te und wer sagt, das sei sexis­tisch, hat natür­lich völ­lig Recht: Über­all nur halb­nack­te Frau­en und nir­gends wer­den Pro­duk­te für den Herrn ange­bo­ten, der sich hübsch machen will.