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Frittierte Rock-Nostalgie

Mit Nostalgie ist das ja immer so eine Sache: viele Dinge sonnen sich nur noch in ihrem einstigen Ruhm und sind bei genauer Betrachtung heute ganz schlimm. Led Zeppelin ohne Robert Plant, zum Beispiel, viele Fußballvereine oder auch Weihnachten mit der Familie.

Die Essener Grugahalle feiert in diesem Jahr ihren fünfzigsten Geburtstag. Sie ist Betongewordene Bonner Republik (Willy Brandt und Konrad Adenauer haben dort Reden gehalten), deren Architektur den Optimismus der 1950er Jahre perfekt wiedergibt und die deshalb ohne Mädchen in Petticoats und Männer mit Anzügen und Hüten antiker wirkt als so manch mittelalterlicher Sakralbau. Eine Cousine meines Vaters hat dort 1966 die Beatles live gesehen, was sie in der Verwandtschaft zu einer kleinen Berühmtheit macht.

Die Grugahalle ist untrennbar mit den legendären “Rockpalast”-Nächten des WDR verbunden, die damals noch live im Fernsehen übertragen wurden. Grateful Dead haben damals dort gespielt, Mitch Ryder und Bap. Und obwohl man meinen sollte, dass man mit Fernsehübertragungen von Konzerten nicht allzu viel falsch machen kann, ist auch der “Rockpalast” heute angestaubter denn je: Manuel Unger, für den man beim Ewige-Jugend-Sender Eins Live keine Verwendung mehr hatte, wird heutzutage mitten in die Livesets geschnitten und stellt dort Fragen, die älter sind als Peter Rüchel und Alan Bangs zusammen.

Aus den eingangs geschilderten gefährlichen Nostalgie-Gründen haben sich Grugahalle und WDR zusammengetan, noch einmal eine “Rockpalast”-Nacht auszurichten, deren Headliner Ben Folds und Travis die Hauptrolle in meiner ganz persönlichen Konzert-Nostalgie-Geschichte spielen. Es war also klar, dass ich gestern dabei sein musste.

Fast wäre daraus nichts geworden, denn die Securities am Eingang, die offenbar erst letzte Woche vom Department of Homeland Security abgeworben worden waren, wollten mich nicht in die Halle lassen, so lange ich ein Taschenmesser in meiner Hosentasche hatte. Sowas könne man nie mit reinnehmen, erklärte mir der überaus unfreundliche Schrank, und riet mir, das Messer wegzuwerfen. Da ich erstens mit meinem Schweizer Messer bisher bei keinem Konzert und Stadionbesuch Probleme gehabt hatte und ich zweitens keine 15 Jahre alten Wertgegenstände in Mülltonnen zu werfen pflege, musste ich mir erst einmal ein gutes Versteck (im Radkasten eines WDR-LKW) suchen. Auch bei meinem zweiten Versuch, die Halle zu betreten, wurde ich gründlicher abgesucht als am New Yorker Flughafen JFK. Aber man kennt ja die Gefahren, die von verliebten Teenagern in Chucks und ergrauten Rockfans ausgehen. (Dass natürlich fast jeder Besucher mit einem Videohandy in die Halle gehen durfte, mit dem er Urheberrechtsverletzungen in Millionenhöhe begehen könnte, steht auf einem anderen Blatt.)

Als ich dann endlich in der Halle war, hatte ich The Rascals schon verpasst, was angeblich nicht weiter schlimm war. Der Hallenboden war notdürftig mit sich wellendem PVC ausgelegt, die Halle selbst in der Mitte mit Vorhängen abgetrennt. Es sah aus, wie es eben in Mehrzweckhallen aussah, bevor sie “Kölnarena” und “O2 World” hießen”, und roch fürchterlich nach Frittierfett, was an der Imbisstheke im Erdgeschoss lag, die (samt Belegschaft und Würstchen) vermutlich auch schon bei den Beatles dort stand. Es fällt schwer, sich ein würdeloseres Ambiente für seine Lieblingskünstler auszudenken, ohne die Begriffe “Möbelhaus” oder “Autohaus” zu verwenden. Und dann spielten Glasvegas irgendwelchen düsteren Joy-Division-Indierock.

Fleet Foxes live on stage

Es konnte also nur noch besser werden, als die Fleet Foxes die Bühne betraten. Ihr Auftritt war noch besser als der in Haldern, was unter anderem daran lag, dass sie nur noch knapp ein Drittel ihrer Brutto-Spielzeit mit Pausen verbrachten und nicht mehr die Hälfte. Sänger Robin Pecknold, der sich vorher via iPhone noch informiert hatte, was für eine Stadt Essen überhaupt ist, nutzte gleich mal die Gelegenheit, sich über den Namen “Rockpalast” lustig zu machen, und die ganze Band versuchte sich in krassen Rockerposen. Dann stimmten sie wieder ihren vierstimmigen Gesang an und zupften ihre großartigen Folksongs. Weder Musik noch Aussehen der Band deuteten auf das Jahr 2008 hin.

Donavon Frankenreiter verfolgte ich aus einiger Entfernung im Sitzen. Es war netter Pop zwischen Jack Johnson und Jason Mraz, aber ich musste ja eh meine Kräfte sparen.

Ben Folds live on stage

Denn dann kam Ben Folds auf die Bühne. Anders als zu Zeiten seines Trios Ben Folds Five war Folds diesmal tatsächlich zu fünft, um den Sound seines neuesten Albums möglichst originalgetreu auf die Bühne zu bringen. Entsprechend opulent klang das Ganze, dafür gab es – bei knapp fünfzig Minuten Spielzeit kein Wunder – keinerlei Improvisationen und auch keinen einzigen Ben-Folds-Five-Song. Dafür gab es von “Dr. Yang” und “Bitch Went Nutz” je gleich zwei Versionen — einmal die vom neuen Album und einmal die vom Fake-Album, das Folds zuvor über Tauschbörsen verteilt hatte. Es war ein (bis auf gelegentliche Textaussetzer) höchst professioneller Auftritt, und trotzdem fehlte etwas.

Travis live on stage

Dieses Etwas, das wir “Seele” nennen wollen, kam dann mit Travis auf die Bühne. Die rocken ja seit Neuestem wieder und klangen entsprechend stürmisch wie lange nicht mehr. Zwischen die neuen Songs und die umjubelten Hits der mittleren Phase hatten sie ein paar Uralt-Songs ins Set gepackt, darunter “U16 Girls”, das ich noch nie live gehört hatte, und “Falling Down”, das Fran Healy gleich mal inmitten des Publikums sang. Als sie dann im Zugabenblock noch “Flowers In The Window” nur mit Akustikgitarre (und ohne irgendeine Form von Verstärkung) spielten, war die Lagerfeueratmosphäre komplett und ich war mir sicher, das beste Travis-Konzert meines Lebens gesehen zu haben (es war mein fünftes insgesamt). Auch die zwischendurch aufkommende Frage, warum man sich überhaupt noch Livekonzerte (und mit ihnen ein oft nervtötendes Publikum) antun muss, wurde in dem Moment beantwortet, als ich einen älteren Herrn, der mich an meinen früheren Mathelehrer erinnerte, bei Travis strahlend im Takt wippen sah. Sowas sieht man im Fernsehen ja nie.

Vor der Halle wurde ich dann aber wieder von der kalten Essener Realität eingeholt, als ich feststellte, dass der Nachtbus mitnichten an der Haltestelle “Messe/Gruga” abfuhr, an der ich stand, sondern offenbar an einer namensgleichen irgendwo anders. (Es sei hier nur noch einmal daran erinnert, dass das Ruhrgebiet und Essen insbesondere in dreizehneinhalb Monaten “Kulturhaupstadt Europas” genannt werden wollen und Gäste aus der ganzen Welt erwartet werden. Da wäre es natürlich hilfreich, wenn sich auch fremdsprachige Besucher in dieser Katastrophe von Städtebau und ÖPNV bewegen könnten — etwas, was heute nicht mal Anwohnern der Nachbarstädte gelingt.)

Am Wochenende 6./7. Dezember wird die “Rockpalast”-Nacht von gestern im WDR Fernsehen ausgestrahlt.