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Leben Unterwegs

Ein Abend mit der Kernzielgruppe

Ich war gestern in Köln. (Kunstpause. Mitleidige Laute aus dem Publikum.)

Ich war gestern in Köln, weil Stefan Niggemeier da für die Sendung “Funkhausgespräche” von WDR5 auf dem Podium saß. Die Diskussion selbst war nicht sonderlich spannend, denn dafür wäre es förderlich, dass die Diskutanten unterschiedlicher Meinung sind, was Stefan, Jörg Schieb und Schiwa Schlei nicht waren. Der Moderator war offenbar ein Absolvent der Volker-Panzer-Journalisten-Schule und saß entsprechend schlecht vorbereitet, verwirrt und voreingenommen in der Debatte. Das alles können Sie hier nachhören, wenn Sie es nach dieser Beschreibung ernsthaft noch wollen.

Weitaus interessanter war das Publikum, das sich im Kleinen Sendesaal des Funkhauses am Wallraffplatz versammelt hatte (der Eintritt war kostenlos): Es handelte sich um eine wilde Melange aus Menschen, deren Durschnittsalter Dank tatkräftiger Hilfe von einem jungen Pärchen und mir noch knapp unter die sechzig Jahre gedrückt wurde.

Ich saß noch keine halbe Minute in den gemütlichen Ledersesseln in der Lobby, da wusste ich auch schon, dass die Dame hinter mir vierundachtzigeinhalb Jahre alt war und wegen ihrer schlechten Knochen einen Bodybuilder hatte. Ein geselliger Herr fragte sie, ob sie auch Doping mache, was sie mit dem Hinweis konterte, sie lebe seit 26 Jahren vegan. Im Übrigen trage er eine “Tierleichenjacke”. Das Mitleid, das ich in diesem Moment mit dem Lederjackenträger hatte, ließ sehr schnell nach, nachdem er seinem Begleiter die Lebensgeschichte seines Sohnes erzählt und postuliert hatte, dass es am Computer keine Trennung von Arbeit uns Spiel mehr gebe. Stefans Kolumne in der Sonntagszeitung liest er aber gerne.

Während ich verzweifelt versuchte, nirgendwo hinzublicken, wo ein Gespräch auf mich lauern könnte, hörte ich einem gutgelaunter Rheinländer zu, der seinen Kumpel zu überreden versuchte, an einer Singlebörse im “Juutzie-Kino” teilzunehmen. Er bekräftigte seinen Appell, indem er einige hundert Male “Mach das!” sagte. Eine ältere Dame scheiterte an den Radios, die es einem in der Funkhauslobby erlauben, die WDR-Sender live zu hören. Allerdings über Kopfhörer und nicht über die dort ebenfalls herumstehenden Telefone. Ihre Freundin studierte währenddessen aufmerksam das Programm und stellte dann fest: “Nächstes Mal ist gut!”

Die Situation wurde nicht angenehmer, als wir im Kleinen Sendesaal Platz nehmen durften, der auf sympathische 18 Grad heruntergekühlt worden war. Dort saß ich nun, sah einen alten Mann mit Brasilien-Fan-Schal um die Schultern hereinkommen, und hörte mit der Kernzielgruppe von WDR5 die Kindersendung “Bärenbude” über die Saallautsprecher. Es war, als hätten die Coen-Brüder einen Loriot-Sketch neuverfilmt.

Nach der Livesendung wurde Stefan von einem Mann abgefangen, der seinen mehrminütigen Monolog mit den Worten “Ich habe eben aufmerksam zugehört” begann, um dann unter Beweis zu stellen, dass er genau das offensichtlich nicht getan hatte. Ich wurde währenddessen von einem Security-Mann (In einem Radiosendesaal, der von Greisen besetzt worden war!) in die Lobby geschoben, wo ich alsbald erkannte, warum zumindest ein Teil des Publikums seine Abende im Funkhaus verbrachte: Es gab Freibier — oder das, was man in Köln dafür hält.

Nachdem Stefan irgendwann doch noch freigelassen worden war, standen wir etwa eine Minute in der Lobby, ehe seinem neuen Fan doch noch was eingefallen war: Die Leute würden im Internet ja meistens nur noch eine Seite besuchen und gar kein vergleichendes Lesen mehr betreiben. Als ich fragte, wie viele Leute denn mehrere verschiedene Tageszeitungen läsen, war er für einen winzigen Augenblick indigniert. Stefan, der alte Profi, nutzte diesen Moment, um sich unter Vorspielung von Freundlichkeit zur Theke zu schleichen. Er drückte mir eine weitere Stange Kölsch in die Hand und stand plötzlich ganz woanders. So entging ihm, wie der Mann, der das Internet sortieren wollte (in “Gut”, “Nicht ganz so gut” und “Richtig schlimmen Mist”), auf magische Weise innerhalb weniger Sätze von “Spiegel Online” über seinen Schwiegersohn zur Bankenkrise kam. Die Zeit auf den überall gut sichtbaren Atomzeituhren verstrich.

Ich schaffte es schließlich, mich zu den Diskutanten zu retten, die inzwischen inhaltlich ein bisschen weiter waren: Jörg Schieb und Stefan battelten sich gerade, wer die älteren und obskureren Heimcomputer gehabt hätte. Das war zwar genauso “Opa erzählt vom Krieg” wie der Rest der Versammlung, aber wenigstens sind die Beiden noch keine Opas, was die Sache irgendwie netter machte.