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Rundfunk Gesellschaft

Herdenprämie

Früher, als Fußbälle noch aus Schweineblasen hergestellt wurden und das einzige Bildschirmempfangsgerät einer Gemeinde in der örtlichen Gaststätte stand, traf sich die Dorfgemeinschaft zu wichtigen Ereignissen wie dem Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft in der vollgequalmten Gaststube und schaute sich die Übertragung im Kollektiv und im Schwarz-Weiß-Fernseher an. Später hatten immer mehr Menschen einen eigenen Fernseher, der sogar Farbbilder darstellen konnte, und man guckte den Gewinn von Welt- und Europameisterschaften im heimischen Wohnzimmer.

Vor zwei Jahren fingen die Deutschen dann wieder an, sich in großen Gruppen auf öffentlichen Plätzen zu versammeln und ihre Nationalflagge zu schwenken. Sehr zur Freude der restlichen Welt verzichteten sie dabei aber auf die ganzen anderen Elemente ihres merkwürdigen Brauchtums. Stattdessen guckten sie auf eine Großbildleinwand und lauschten sogar den Ausführungen der Sportjournalistendarsteller Reinhold Beckmann, Johannes B. Kerner und Bèlá Rêthý, ohne dadurch zum marodierenden Mob zu werden. Vor allem das muss man den Deutschen sehr hoch anrechnen.

Dieses öffentliche Gucken nannten die gleichen Marketingexperten, die sich so geniale phantasiesprachliche Formulierungen wie “Handy”, “Powered by emotion” oder jetzt “We love the new” aus der Nase gezogen haben, “Public Viewing”. Zyniker übersetzten das mit “Völkischer Beobachter”, andere wussten zu berichten, dass man die öffentliche Aufbahrung von Toten in den USA so nenne (was natürlich stimmt, aber genauso wie das gemeinsame Fernsehen nur einen kleinen Teil der Bedeutung des Begriffs ausmacht).

Im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft bat der Jugendradiosender Einslive seine Hörer um Alternativvorschläge zum Begriff “Public Viewing” und bekam einiges an Zusendungen. In einer Abstimmung entschied sich das Publikum für den Begriff “Rudelgucken”, der seitdem bei Einslive mit an Brutalität grenzender Vehemenz promotet wird. Irgendwie mag ich den Klang des Wortes nicht – es erinnert phonetisch viel zu sehr an “Rudelbumsen” und hat auch sonst einen negativen Beiklang.

Anatol vom sehr empfehlenswerten Bremer Sprachblog fasst diesen ganz gut in Worte:

da klingt doch überall die Verachtung derjenigen durch, die Fußball lieber gepflegt zu Hause, oder, noch besser, gar nicht gucken.

Das wirklich Interessante ist aber: im Gegensatz zu den peinlichen Aktionen, die die gruselige “Stiftung deutsche Sprache” regelmäßig durchführt (im Moment sucht sie übrigens ein deutsches Pendant für … äh: “Public Viewing”) scheint der Begriff “Rudelgucken” sofort Einzug in die Alltagssprache vieler (vor allem junger) Menschen gefunden zu haben. Google findet derzeit 71.000 Suchergebnisse, fragt aber auch, ob man nicht “rudel gurken” gemeint haben könnte. Dieser Vorgang ist durch die gezielte Platzierung durch einen Radiosender zwar einigermaßen unnatürlich, aber das war die Verbreitung von “Public Viewing” ja auch.