Wir Sind Helden haben ein Album veröffentlicht, das unsere Autoren spaltet: Katharina Schliebs ist begeistert von seiner Tiefe, Lukas Heinser wollte es nach zwei Durchgängen eigentlich nie wieder auflegen. Gemeinsam haben sie sich noch einmal durch “Bring mich nach Hause” gehört und ihre Eindrücke in ein Chatfenster geschrieben.
Herausgekommen ist so etwas ähnliches wie ein Text:
Katharina: “In den Bibliotheken städtischer Ballungen / stapeln sich Bücher über läppische Wallungen / neben Bänden voller Lieder über Beulen und Schräglagen / und die Wände hallen wieder vom Heulen und Wehklagen.” — Was für ein großer Text über die Kleinigkeiten, die zur Soap des Lebens aufgeblasen werden.
Lukas: Den Song würde ich glaub ich skippen, wenn ich das Album hören würde.
Katharina: Der ist unglaublich schön in seiner zarten Subtilität. Gänzlich undramatisch fließt es so dahin, und diese Trompete ist wunderbar. (Ist es eine Trompete?) Ich hab den gestern im Zug immer wieder auf repeat gehört. Dieses Album ist eben etwas schwerer zugänglich.
Lukas: Ich find dieses “Drama-Dramatiker” im Refrain so unfassbar nervtötend.
Katharina: Ja, aber da haben wir eine Überschneidung von Text/Musik/Aussage. Das ist so fein aufgebaut: Die Mädchen regen sich über die Jungs auf, die Jungs über die Mädchen, und die Renter stehen für die Zuschauer, die dann auch noch einen guten Rat parat haben – Frühvergreisung der Besserwisser Anfang 20… ach! Und alles ist immer so dramatisch, dabei pupst das Leben einfach unspektakulär vor sich hin. Und Judith Holofernes sagt im Interview: Es ist Zeit, mal weniger zu wollen und die Dinge einfach mal geschehen zu lassen.
Lukas: Das sagt sich natürlich leicht, wenn man gerade ein Album aufgenommen hat, auf dem man definitiv zu viel gewollt hat.
Katharina: Hat man? Ich find nicht!
Lukas: Das dritte Album war ja schon ein bisschen überambitioniert, aber das neue lässt mich noch ratloser zurück als Tocotronic. Vielleicht bin ich auch einfach nicht gebaut für Intellektuellen-Pop.
Katharina: Ja, das ist schade, dass es vielleicht zu “intellektuell” und damit schwerer zugänglich ist… andererseits müssen WsH auch keine Ansprüche erfüllen. Judith hat auch gesagt, sie hätte schon beim 3. Album etwas dämonisch gedacht: “Mal gucken, wer da jetzt noch mitkommt.”
Lukas: Was natürlich eine schöne Weiterentwicklung vom Slogan-Pop des ersten Albums ist. Wobei die Slogans ja nur verschachtelter geworden sind.
Katharina: Das ganze Album ist im Prinzip das erste und das zweite Album nur in besser! Die Themen sind die gleichen, immer!
Lukas: Na, die Themen sind bei ungefähr jeder Band immer dieselben.
Katharina: “Dramatiker” wäre zum Beispiel “Geht auseinander”.
Lukas: Dieser Sprachwitz, der bei “Die Zeit heilt alle Wunder” noch charmant und unverbraucht war (obwohl das im Rückblick auch näherungsweise albern ist), ermüdet mich auf die Dauer. Das wird so Christian-Morgenstern-mäßig, Heinz-Erhardt-esk.
Katharina: Ja, aber irgendwie find ich das immer noch lustig: Dramatiker, Batiker, Statiker, Talarsticker, Starkicker. “Wer zu viel frisst aus Frust verlässt danach oft die Bar dicker” — ich muss immer grinsen. Und das ist ja nur das eine Lied! Warte mal die anderen ab!
Lukas: Vielleicht ist es meine generelle Voreingenommenheit dem Album gegenüber, aber Entschuldigung: Das ist doch Kinderkacke! (Womit wir natürlich beim zentralen Thema des Albums wären.)
Katharina: Was genau ist Kinderkacke?
Lukas: Diese Reime. Das ist das Prinzip Olli Schulz und das ging auch nur ein halbes Album lang gut.
Katharina: Kinderkacke, hm. Zentrales Thema: Kinderkriegen?
Lukas: Angeblich versteht man das Album ja (besser), wenn man selber Kinder hat. Auf dieses hermeneutische Moment kann ich aber für den Moment ganz gut verzichten.
Katharina: Also, ich hab das Album gehört, ohne ein Interview dazu gelesen zu haben, und dass Judith Holofernes mittlerweile zwei Kinder hat, war nicht in meinem Kopf. Dass es um bedingungslose Liebe geht, hab ich aber auch ganz ohne Kinder verstanden. Kann man also drauf verzichten, auf dieses hermeneutische Wissen zur Interpretation, Herr Dr. Heinser.
Lukas: Evtl. sollte ich das Album noch ein drittes Mal hören, aber meine Abwehrhaltung erstaunt mich inzwischen selbst. Dann lieber zum hundertsten Mal das neue Manics-Album, das handelt auch vom Älterwerden, gibt mir aber sehr viel mehr.
Katharina: Nochmal zu den Kinderkacke-Reimen: Ich finde eher, dass es zart aus der Luft gegriffene ähnliche Wörter sind, die die Bedeutung charmant ergänzen, gleichzeitig dem Lied eine Leichtigkeit und Humor geben und den Zeigefinger rausnehmen. So muss man das machen.
Katharina: Ich hab mal jemandem ein Mixtape gemacht, und hab gefragt, ob es irgendwelche Wünsche gäbe, da hat die Person gesagt: “Ja, nicht nur so boy meets girl-Mist”. Da hab ich zu Hause gesessen und hatte echt ein Problem. Ratloses Scrollen in der Mediathek…
Lukas: Och …
Katharina: In den Mediatheken städtischer Ballungen…
Lukas: Wenn’s Sven Regener sänge, fänd ich’s wahrscheinlich geil, das muss ich zugeben.
Lukas: Danach geht’s aber leider direkt los: Dieser Sound von “Was uns beiden gehört” geht gar nicht.
Katharina: Uiuiuiui!
Katharina: Es ist ein Lied über die Affäre zweier gegensätzlicher Personen, der Mann leicht und bunt und chaotisch und wild, die Frau schwermütig und mit Tiefe, bewahrend und irgendwie auch klüger… Aber sie teilen die Abendstunden, beide wissen, was sie aneinander haben, und wer sie selber sind.
Lukas: In die Texte komm ich diesmal irgendwie gar nicht rein.
Katharina: Ich fürchte aber, dass das “ein Kuss ist ein Kuss ist ein Kuss” ist eher ziemlich bitter gemeint, auch wenn es noch so fröhlich dargeboten wird. Da weist dann auch “Die Ballade von Wolfgang und Brigitte” drauf hin – weil das Konzept von “Freie Liebe” nie gut ausgeht. Und wenn man sich noch so sehr auf Unverbindlichkeit einigt: Irgendwann knallt’s ja doch. Ich mag diese balkaneske Leichtigkeit des Liedes, in der irgendwie doch Trauer mitschwingt, so eine melancholische Tiefe – kann man das sagen?
Lukas: Ja, aber sie scheitern doch völlig an diesem Balkansound.
Katharina: Sie scheitern? Warum?
Lukas: Das hat keine Leichtigkeit, das klingt so bemüht.
Katharina: Ich spring in der Wohnung rum zu dem Lied. Ich liebe das Schlagzeug. “Klingt bemüht” passt vielleicht auch wieder zum Text: Krampfhaft versuchen, Leichtigkeit in eine Sache reinzubringen, die nicht leicht ist, und wenn man noch so sehr sagt: “Ein Kuss ist ein Kuss ist ein Kuss ist ein Kuss ist ein Kuss”. Perfekter Song.
Lukas: “Flucht in Ketten” — Was singt sie da? “Arugular”?
Katharina: Rahula. Eine Figur aus dem Buddhismus.
Lukas: Oh Gott. Sie haben mich verloren. Gesungener Hermann Hesse.
Katharina: Der Sohn von Siddharta.
Lukas: Ich sag’s doch! Ich muss brechen.
Katharina: Wieso?
Lukas: Bei spirituellen Bildern setzt bei mir alles aus. Jakob Dylan darf alttestamentliche Bilder benutzen, aber alles, was darüber hinausgeht, macht mich fertig.
Katharina: Ja, warum?
Lukas: Weiß ich nicht.
Katharina: Ok. Ich kenn mich mit Buddhismus jetzt auch nicht weiter aus, aber trotzdem kann man ja spirituelle oder biblische Geschichten auch ohne religösen Hintergrund lesen und daraus Erkenntnis gewinnen. “Flucht in Ketten” ja auch eine Anspielung auf den Film: “Die beiden Häftlinge John ‘Joker’ Jackson und Noah Cullen können während eines Gefangenentransports fliehen. Durch Ketten sind sie aneinandergefesselt und müssen zum Erfolg ihrer Flucht die persönlichen Schwierigkeiten miteinander lösen.” Da haben wir wieder das Thema Kinder, aber auch Familien. Familien: Aneinander gekettet, hilft nix.
Lukas: Aber was das jetzt mit Familie zu tun hat, dass ein Schwarzer und ein Weißer zusammen aus dem Knast ausbrechen …
Katharina: Es geht um das, was aneinander fesselt. Familie, Blutsverwandtschaft. Kannst du dein ganzes Leben nicht abstreifen, bleibt immer an dir kleben, und wenn du hunderte von Kilometern zwischen dich und die Familie bringst, du nimmst sie immer mit… – irgendwo im Dunkeln sind sie immer noch da… Vermutlich wäre es besser, sich anzufreunden, miteinander auszukommen.
Lukas: Diese “Ballade” finde ich auch unerträglich. Warum muss jemand, der so große assoziative Texte schreiben kann, plötzlich so platt eine Geschichte erzählen?
Katharina: Hab ich auch gedacht, hab das Lied auch erst gehasst.
Lukas: “Sie hatten zusammen eine Kiste, nur das mit der Beziehung war Gitte nicht so klar” — das ist ein lyrischer Totalausfall. Das ist gewollter Robert Gernhardt.
Katharina: Lustig, das mit der Kiste hab ich die ganze Zeit so verstanden, dass sie eine Box zusammen haben, eine Umzugskiste oder so.
Lukas: Ich fürchte, das Wort “Beziehungskiste” muss in meiner Kindheit in meinen passiven Wortschatz gewandert sein.
Katharina: Du meinst BEZIEHUNSKISTE?! Ich dachte jetzt BETT. Im Sinne von: Sie gehen zusammen in die Kiste.
Lukas: Ich fürchte, in diesem Spannungsfeld bewegt sich der “Witz”.
Katharina: “Die Ballade von Wolfgang und Brigitte” – einmal große Lebensweisheit nebenbei in einer kleinen Geschichte erzählt. Gerade in dieser Zeit, wo man uns erzählt, dass alles möglich ist und alles schön und gut ist, jeder mit jedem alles sein kann, wenn man nur bereit ist, alles zu geben, alles zu fühlen, zeigt das Lied wunderbar, dass es am Ende doch immer noch Prinzipien gibt, die uns bestimmen. Die Liebe zum Beispiel, die macht erstaunlich unflexibel und unmobil, legt uns fest, und auf einmal können wir gar nicht mehr so schön postmodern agieren, wie wir vielleicht wollten. Aber wieder Frau Holofernes: Sie unterstellt jedem der Beteiligten in der Ballade, dass sie wenigstens irgendjemanden lieben. Sie gibt immer jedem ein Zugeständnis. Ich will von ihr adoptiert werden!!
Lukas: Mal was anderes: Die Soundentscheidung für dieses Analoge ist mutig, aber sie tut der Band nicht so richtig gut.
Katharina: Warum?
Lukas: Ich weiß nicht. Natürlich waren diese Synthies auch irgendwie eine Schiene und Mia. haben sich ja auch in Richtung Akustik verschoben, aber damit wird es auch ein bisschen austauschbar. Das steht PeterLicht besser.
Katharina: Dem steht eh wieder vieles besser, ganz anderes Thema… ich mag das Album musikalisch, es ist so stimmig, es fängt schob mit dem Cover an; alles ist erdiger, natürlicher, ruhiger, tiefer.
Lukas: Aber das ist doch Suggestion (mal davon ab, dass das Cover natürlich immer das Hören beeinflusst): “akustisch = tiefer”.
Katharina: Ok, kann man sagen, ja. Kommt mir aber trotzdem so vor.
Lukas: Song 6 und auf der Habenseite stehen zwei Songs, die auf den ersten beiden Alben “ganz okay” gewesen wären: “Alles” und “Bring mich nach hause”.
Katharina: Ich fand das erste Album schon immer eher geeignet für evangelische Jugendfreizeiten als für den persönlichen Hausgebrauch.
Lukas: “Deine Weste ist zu weiß, wart, ich frage einen Batiker” — WTF?
Katharina: Na! Es geht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen, Drama zu machen. Ist eine Abwandlung vom Glashaus und Stein. Übrigens auch davon, den eigenen Anteil an Situation zu leugnen. “Deine Weste ist zu weiß”, “Dein Weltbild hängt schief” –diese freundliche Aufforderung, mal auf sich selber zu gucken.
Lukas: Kommt natürlich voll rüber.
Katharina: Kommt rüber! Und am Ende, damit es nicht zu moralinsauer wird, dann eben die kleinen Witzchen über die Bar und Ronaldo.
Lukas: Ich glaube, ich hasse es vor allem, dass sie Texte schreiben, in die ich nicht reinkomme. Wobei mich das bei Tocotronic nicht so nervt. Nur zu zwei Dritteln.
Katharina: Ich glaub, das nervt vor allem, weil man WsH als nicht besonders komplex kennengelernt hat.
Lukas: Ja.
Katharina: Und man will, dass das so bleibt. Vielleicht. Also, man kann natürlich auch froh sein, gemeinsam älter zu werden, denn die Welt wird ja immer schattiger mit zunehmendem Alter.
Lukas: Ich weiß ehrlich nicht, ob sie das selbst stemmen können, was sie da aufbauen. Textlich wie musikalisch.
Katharina: “Die Träume anderer Leute” zum Beispiel ist wesentlich klüger, reifer, besser als “Guten Tag”, dabei geht es um genau das gleiche: “Ich will mein Leben zurück”. Nur viel näher an Nietzsche als am Studentenprotest, was unbedingt ein Kompliment ist!
Lukas: Ich bin, wie ich möglicherweise schon mal betont habe, Fan von Slogan-Songs. Nietzsche ist mir zum Beispiel gerade noch nahe, wenn James Dean Bradfield “So God is dead, like Nietzsche said” singt und dann von Morrissey und Johnny Marr singt. Mehr weiß ich eh nicht darüber.
Katharina: Nietzsche hat ja auch noch mehr gesagt als diesen einen verdammten Satz.
Lukas: Oh, wir nähern uns einer Uptempo-Nummer, ich erahne sogar milde verzerrte Gitarren. Song 10 — Zeit, irgendwas rauszuhauen.
Katharina: “Kreise”? Thematisch: “Gib mir das, ich kann es halten …” Wieder das Zugeständnis: Vielleicht macht das ja Spaß, in diesem Käfig. Wenn du es später noch willst, kriegst du es wieder.
Lukas: In meinen Ohren handelt es von Stillstand.
Katharina: Ja, Stillstand in der Bewegung aber, weil es immer nur im Kreis geht. Dieselben Muster, dasselbe Verhalten, kein Rauskommen. Aber: Ein Kreis ist noch keine Reise. Es geht bei WsH ja immer auch um Befreiung und Emanzipation aus dem, was uns fesselt und gefangen nimmt, ob das nun die familiäre Vorgeschichte ist oder die herrschenden Verhältnisse. Immer geht es darum, die eigene Gestalt anzunehmen und das eigene Leben zu leben, mit all seinen krummen Verwirrungen. Das ist DAS WsH-Thema. “Vielleicht ist da ein neuer, bescheuerter, scheuerer Traum … und vielleicht ist das dann deiner …”
Lukas: “Im Auge des Sturms” ist das, was ich meine: Das ufert plötzlich in eine Jamsession aus, die die Band nicht so richtig hergibt.
Katharina: Musikalisch, ja. Ich mag das Lied auch nicht so.
Lukas: Natürlich kann man einen Drei-Minuten-Song auf 5:22 ziehen, aber … Warum?
Katharina: Das liegt aber am Thema: Dieses jemandem vor der bösen Welt zeitweise schützen. Das haben sie thematisch einfach besser gemacht bei “Gib mir das”. Ob da zu viel “Lost” geguckt wurde?
Lukas: Das waren Weezer.
Lukas: “Was niemals geboren wird, kann niemals verloren gehen” ist zum Schluss natürlich wieder groß. Weil es die zentrale Frage stellt: Versuchen und scheitern oder nicht versuchen und sicher sein?
Katharina: Ja. Das Lied, dem man vorhalten könnte, es gehe nur um Kinderliebe. Also, “nur”. Das wäre aber noch zu unterkomplex, wenn ich eins meiner Lieblingswörter benutzen darf.
Lukas: Kinderliebe hatte ich darin nun wirklich nicht erkannt. (Und “geboren” durchaus metaphorisch gelesen.)
Katharina: Weil es nicht darum geht, es zu versuchen oder nicht zu versuchen, weil: “Wir sind verloren, wir sind verloren”. Man kann das leugnen, aber man steht drin. Es geht um Unwägbarkeiten, darum, auch mal nicht so viel zu wollen. “Ich werd mich mich nicht bewegen, den Kopf gesenkt, Genick entblößt, wart ich auf den Segen oder auf den Schlag der mich erlöst.” Es geht um Demut und darum, zu erkennen, wo die Grenzen der Machbarkeit sind. In diesem FAZ-Interview steht auch der schöne Satz: Es ist das Hingeben in “Dein Wille geschehe” — wieder eine unreligiöse Lesart.
Lukas: Das Wort Demut wollte ich auch gerade bringen, aber im negativen Sinne.
Katharina: Wieso negativ? Es ist ein stark negativ besetztes Wort in unserer Zeit der Suggestionen von Machbarkeit und Herstellbarkeit, in der wir nur wollen müssen. Aber wenn ich könnte wie ich wollte würd ich gar nichts wollen…
Lukas: Das erste Album war über Leben zurück fordern und Vorschlaghämmer, selbst “Du erkennst mich nicht wieder” handelte am Ende vom Losfliegen. Und jetzt? Alles nur noch hinnehmen und ertragen.
Katharina: Das wären zu große Extreme, es geht vielmehr darum, unterscheiden zu lernen zwischen dem, was man ändern kann und was unveränderlich ist.
Lukas: Reinhold Niebuhr!
Katharina: Hm? Wer ist das?
Lukas: http://de.wikipedia.org/wiki/Gelassenheitsgebet
Katharina: Ach so, ja. “Die Träume anderer Leute” weist genau darauf hin, es geht nicht darum, nur zu ertragen, im Gegenteil, es geht darum, die größtmögliche Souveränität zu erlangen — nur eben hat die menschliche Souveränität ihre Grenzen. In der Kinderliebe. In der Liebe schlechthin. In der Übernahme von Verantwortung. Im Sterben.
Lukas: Das ist ja auch schön und toll, aber doch kein Pop-Thema.
Katharina: Wieso nicht? Ich find das ein total tolles Popthema, auch mal zu sagen: Ich nehme hin, ich ertrage, ich weiß, wir können jetzt nichts tun, außer uns hinzulegen und uns auszuruhen. Das ist doch ein Thema: Liebe, Freundschaft, Weisheit, alles drin. Außerdem auch großartig, dass das Thema “Kinder” nicht unter Jubelaspekten betrachtet wird, sondern unter dem Aspekt, wieviel Schmerz und Leid das alles bringt: Kinderliebe als Fessel, als Bürde, als Sorge, als Angst, all die Themen, über die kaum einer mit werdenden Eltern spricht. Ein Blick auf die andere Seite.
Lukas: Womöglich ist das einfach der Teil, der mir fürs Verständnis fehlt.
Katharina: Und das gilt auch für Liebe schlechthin: Sie bedeutet Verantwortung und vielleicht auch Fessel. Das wissen die Menschen oft nicht und hauen sofort ab, sobald es Schwierigkeiten gibt.
Lukas: Wobei meine Bereitschaft, Popalben zu exzerpieren und sie mir wissenschaftlich zu erschließen, auch überschaubar ist.
Katharina: Das ist doch keine Wissenschaft …
Lukas: Aber ohne das ist es ein sterbenslangweiliges Album.
Katharina: Für mich ist das Album wie ein Gespräch mit einem klugen, lieben Menschen nach zwei Gläsern Wein.
Lukas: Es ist ja nicht die Sorte Weltliteratur, die vordergründig als Geschichte und hintergründig als intellektuelle Blaupause funktioniert! Es ist irgendwie nur eins von beidem.
Katharina: Für mich ist das Album Literatur, und zwar im deutschsprachigen Raum zur Zeit einzigartig.
Lukas: Natürlich ist es Literatur: Es funktioniert nur, wenn man sich in die Texte vertieft — aber dafür muss ich doch keine Musik-CD aufnehmen, da kann ich auch einen Roman oder einen Ratgeber schreiben. Musikalisch ist das Album im Wesentlichen egal.
Katharina: Die Texte leben durch die Vertonung, eben zum Beispiel in “Was uns beiden gehört” diese Mischung aus melancholisch-fröhliche. Die Vertonung als Interpretation des Textes.
Lukas: Ziehen wir noch mal PeterLicht heran: Ich bin weit davon entfernt, “Alls was Du siehst gehört Dir” zu verstehen, aber es ist schon musikalisch so groß, dass er singen könnte, was er will. (Was er letztlich tut. Bei WsH sind die Texte mutmaßlich wichtiger als irgendwas anderes. Und da fühle ich mich als Pop-Konsument (und ich wähle dieses Wort bewusst) verarscht: “So, hier sind die Texte. Arbeite sie durch, sie sind gehaltvoll.” Ja, wozu dann die Musik?)
Katharina: Das stimmt. Ich hab das Album auch erst zu lieben begonnen, als ich endlich die CD mit dem Booklet in der Hand hielt und die Texte gelesen habe. Da war ich dann hin und weg.
Lukas: Na, das ist nicht so meins. (Aber ich komm ja auch mit Gisbert zu Knyphausen nicht klar.) Entweder ist ihnen das Melodietalent abhanden gekommen oder sie verweigern sich diesmal bewusst der eingängigen Melodie (was mutmaßlich Deine Lesart wäre). Aber wozu dann noch Musik machen?
Katharina: Also, eingängige Melodien sind bei “Kreise” “Die Träume anderer Leute” oder “Bring mich nach Hause” durchaus vorhanden, findest du nicht?
Katharina: Wenn wir jetzt noch über “Meine Freundin war im Koma und alles, was sie mir mitgebracht hat, war dieses lausige T-Shirt” reden, dann sind wir durch. (“23:55” sparen wir uns.)
Lukas: Dann lass mich kurz die beiden offensichtlichen Worte sagen und Dir dann den Rest des Feldes überlassen: The. Smiths.
Katharina: Wieso? Wegen There Is A Light am Tunnelende?
Lukas: “Girlfriend In A Coma”. Wobei der Autounfall natürlich auch schön passt. Tatsächlich ein sehr anrührendes Lied.
Katharina: Girlfriend in a coma… Oh Gott, hab ich nicht dran gedacht, du bist echt der König der Intertextualität.
Lukas: Na, aber es ist der rosa Elefant unter den Songtiteln auf diesem Album.
Lukas: Es geht am Ende um einen Autounfall. Man könnte jetzt sagen: “Die Frau im Auto warst nicht Du” ist tatsächlich wörtlich gemeint — da war niemand im Koma, sondern es geht um diesen Schwebezustand des Nichtwissens: Ist da gerade meine Freundin verunglückt? — Puh, nee, doch nicht. Und ich bin mir ehrlich gesagt auch nicht sicher, was es mit diesem T-Shirt (und der Tasse und was weiß ich für Merch die da im Koma verkaufen) auf sich hat.
Katharina: Ich glaub, das heißt, dass du noch so berühmt, beliebt, bekannt, toll sein kannst, die beste Mutter, Ehefrau und Freundin, alles verbürgt und verbrieft auf Tassen und T-Shirts… – am Ende stirbst du, und zwar ganzganz allein, kannst die Erfahrung nicht teilen, das ist ganz und gar deins, du wirst es nicht erzählen können, nicht teilen. Ich glaub da geht’s dann eher darum, dass wir alle irgendwie wissen, dass wir mal sterben müssen, aber der Moment, wo das dann kommt, passiert, ins Leben einbricht, da können wir es nicht glauben: “Das warst nicht du!”
Lukas: Ja. Andere Möglichkeit: Leugnen.
Katharina: Klar, wir leugnen die ganze Zeit, sonst könnten wir ja vor Angst nicht mehr auf die Straße.
Lukas: In dem Song funktioniert es jedenfalls, dass man vor verschlossenen Türen steht und trotzdem berührt wird.
Jedenfalls ist die Reduktion auf Stimme und Klavier hier auch gelungen. (Mal davon ab, dass das Intro mich plötzlich an den “Earth Song” erinnert. Huah!)
Katharina: Ja, es war auch das Lied vom Album, was mich sofort gekriegt hat und bei dem ich sofort angefangen habe zu heulen.
Lukas: Jetzt würde ich sagen, dass es tatsächlich ums Sterben geht. Da aus dem Koma kommt niemand zurück. Und das Hemd ohne Taschen ist dann fast schon wieder plump in einem so verschlüsselten Text.
Katharina: Was ich so mag an dem Lied, dass man das “Koma” ausweiten kann auf alle Erfahrungen, die man nicht teilen kann. Letztendlich also auf alle Erfahrungen. Du warst in einer Situation, die wichtig war für dich, du willst davon berichten und merkst während du erzählst, dass du nicht die richtigen Worte findest, dass du nicht aus dir rauskannst und deine Erfahrung nie “teilen” kannst, weil sie immer nur deine ist. Und dann fühlst du dich auf einmal komplett alleine und getrennt von allem: Alles, was ich dir geben kann, ist nur ein lausiges T-Shirt.
Lukas: “Auch Du” ist dann Cäsar, ne?
Katharina: Hab ich auch überlegt. Wär auch schön: Auch du hast mich verraten. “Auch du bist sterblich, du hast mich verraten!” Der Tod als ein Skandal.
Lukas: Sic transit gloria mundi.
Katharina: Hm?
Lukas: http://de.wikipedia.org/wiki/Sic_transit_gloria_mundi
Katharina: Auch hier wieder: Kopf senken, Genick zum Schlag bereit halten: “Vielleicht näh ich noch Taschen drauf, aber dann werd ich’s mit Fassung tragen”. Wieder: Ich kämpfe um Souveränität. Aber ich kann das Unveränderbare nicht ändern, nur mit Fassung tragen.
Lukas: Das ist natürlich andererseits auch ganz schön, dass wir hier munter mit Geschichte, Psychologie, Wissenschaft hantieren können. Denn die Frage darf ja nie sein, was uns der Künstler sagen will, sondern was wir aus dem Werk entnehmen können. Der Interpretation sind hier Tür und Tor geöffnet.
Katharina: Ja, warum auch nicht? Man muss das alles ein wenig ordnen und straffen …
Lukas: Aber damit ist es eben (puh, argumentativen Zirkelschluss geschafft): Literaturwissenschaft. Als Musik-Album ist das Ding einfach gescheitert.
Katharina: Aber als Freund fürs Leben unbedingt angeraten. Stille Wasser sind tief.
Lukas: Nein, als Freund definitiv nicht. Als gebildeter Onkel oder verehrter Universitätsdozent womöglich. Aber nicht als Freund.
Katharina: Nein. Hörst du nicht die freundliche Stimme von Judith? Früher fand ich sie immer zu sozialpädagogisch-anbiedernd, mittlerweile weiß ich, sie lässt mir meine Freiheit und ist Begleitung. Aber ist ja auch nicht so wichtig, muss ja nicht jeder mit jedem befreundet sein!
Wir Sind Helden – Bring mich nach Hause
VÖ: 27. August 2010
Label: Reklamation Records/Columbia Berlin
Vertrieb: Sony Music