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Digital

15 Jahre Super-Selbstreferentialität

Heute vor 15 Jahren ging hier mein Blog an den Start — oder damals noch „unser Blog“, denn wir hatten das Ding mit einigen Leuten als Gemeinschaftsprojekt geplant (sicherer Lacher: „Dann hat man direkt acht Leser*innen“) und keinen geringeren Anspruch als „das Medium zu machen, dass wir selbst gerne lesen würden“. Das hat alles so mittelgut geklappt.

Coffee And TV 2007 (Screenshot)

Es war die Zeit vor Social Media, Podcasts und so, es gab das Gemeinschaftsgefühl einer sogenannten „Blogosphäre“ und wir waren wirklich so unverfroren zu glauben, dass wir damit die Medienwelt ändern könnten.

Ich habe keine Ahnung, woher ich damals die Energie genommen habe, mich tagein, tagaus an „RP Online“, Nazi-Vergleichen und Barack-Obama-Ranschmissen abzuarbeiten und auch noch jeden Monat Alben, Songs und Filme zu empfehlen. Ich vermute, ich war einfach jung und hatte damals kein besonders aufregendes Leben.

Ohne dieses Blog hätte mich Stefan Niggemeier wahrscheinlich nie gefragt, ob ich mit ihm 42 ESC-Songs besprechen möchte, und er hätte mich nie zum BILDblog geholt. Der Rest ist Geschichte (und ein Buch, das in 18 Tagen erscheint).

Wenn wir daraus also irgendwas lernen können, dann das, was Steve Jobs schon 2005 den Absolvent*innen in Stanford gesagt hatte: „You can’t connect the dots looking forward; you can only connect them looking backward. So you have to trust that the dots will somehow connect in your future.“

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Musik

Songs des Jahres 2021

Und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später ist es soweit: Making disco a threat again!

Ich habe wieder ein bisschen länger gebraucht, aber ich möchte auf keinen Fall sein wie Spotify und Musikzeitschriften, die schon zwischen Oktober und Nikolaus auf ein Jahr zurückschauen. Sowas braucht ja auch Zeit und muss sich erst mal setzen — und dann muss man sich selber erst mal setzen, Songs in eine Reihenfolge bringen, die einem in dieser einen Millisekunde die richtige erscheint, obwohl es natürlich völlig absurd ist, Musik in irgendeine Rangliste zu bringen.

Jedenfalls: Hier sind wir! Und hier sind sie: Meine Top-25-Songs eines immer noch etwas mühsamen Jahres!

25. Chicago Sinfonietta – Dances In The Canebrakes (Arr. W.G. Still for Orchestra) : No. 3, Silk Hat And Walking Cane
Ich habe beschlossen, dass ich die Regeln für meine Liste selbst bestimmen kann, also gehen auch Klassik-Songs! „Dances In The Canebrakes“ ist eigentlich ein Klavierwerk der Schwarzen US-Komponistin Florence Price (1887-1953), das hier für Orchester arrangiert wurde und auf dem Album „Project W: Works by Diverse Women Composers“ erschien — und zwar schon 2019. Da mir dieser Umstand aber genau gerade eben erst aufgefallen ist und mich das Stück bis dahin so sehr durch mein Jahr 2021 begleitet hatte, dass ich es zwischenzeitlich als theme in dem Film, der mein Leben ist, wahrgenommen habe, ist mir das alles egal! Es ist ein großartiges Werk mit einem beeindruckenden Hintergrund, also steigen wir einfach hiermit ein!

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24. Aaron Lee Tasjan – Up All Night
Auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hätte, gab es 2021 doch wieder ein paar Abende, an denen ich angemessen alkoholisiert den Heimweg aus der Innenstadt angetreten habe. Es war stets der perfekte Umstand, um diesen Queer-Folk-Power-Pop-Song in einer Lautstärke zu hören, die einem Apple Health dann hinterher wieder vorwurfsvoll um die Ohren haut.

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23. Adam Levine – Good Mood
Ich sage ja immer, dass es keine peinlichen Lieblingslieder geben kann, aber der Sänger von Maroon 5, der den Titelsong zum „Paw Patrol“-Kinofilm singt — das ist schon eine schwere Hypothek, die man sich selbst gegenüber erst mal rechtfertigen muss!
Tatsächlich hatte ich zuerst den Refrain als Werbepausen-Einleitungsmusik bei Fußball-Übertragungen gehört und sofort geliebt, weil ich seine maximale New-Radicals-Haftigkeit mochte. In Wahrheit hat der Songs nichts mit den New Radicals zu tun (anders als die Songs, die Adam Levine in dem sehr charmanten Film „Begin Again“ und dem dazugehörigen Soundtrack singt), aber das war dann auch schon egal. Keinen Song habe ich 2021 auf dem Fahrrad im Fitnessstudio öfter gehört als „Good Mood“ und wenn Ihr bei diesem Groove nicht mit hochspezialisierten Hundewelpen durch die Wohnung tanzen wollt, kann ich Euch auch nicht helfen!

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Musik

Acts des Jahres 2021

Hey, wie war denn Euer Jahr 2021 so? Genau. Mit Konzerten und Festivals war das ja alles noch so eine Sache, aber Musik war natürlich trotzdem da — und gerade zu Beginn des Jahres, als alles noch so richtig scheiße war (könnt Ihr Euch noch erinnern, dass wir im April eine Ausgangssperre hatten?!), hat sie getröstet und verbunden.

Nachdem ich zu Beginn des letzten Jahres großspurig verkündet hatte, nie wieder eine „Alben des Jahres“-Liste zu veröffentlichen, weil manche Acts gar keine Alben mehr veröffentlichen und andere gleich zwei, brauchte ich irgendeine andere Kategorie, in der ich zu Beginn des nächsten Jahres (ach, komm: is noch Anfang 2022!) Namen sortieren und mir erläuternde Texte aus den Fingern saugen können würde.

Herzlich Willkommen also bei meiner ersten „Acts des Jahres“-Liste, die es mir ermöglicht, ein bisschen über den Tellerrand hinauszuschauen:

10. Måneskin
Dass Italien irgendwann noch mal den ESC gewinnen würde, hatte in den letzten zehn Jahren deutlich in der Luft gelegen. Dass sie es mit einer Rockband tun würden, die klingt und aussieht, als wären ihre Mitglieder die letzten 45 Jahren eingefroren gewesen, nicht unbedingt — aber es hat dann auch nicht weiter überrascht. Womit nun wirklich nicht zu rechnen gewesen war: Dass diese ESC-Sieger*innen zwei Wochen nach dem Song Contest noch nicht vergessen waren; dass „I Wanna Be Your Slave“, die zweite Single aus ihrer EP „Tatro d’ira – Vol. 1“ (RCA/Sony; Apple Music, Spotify), in der sie relativ offen ungefähr alle sexuellen Spielarten durchdeklinieren, ein noch größerer Hit werden würde, der im Radio läuft und von deutschen Grundschulkindern begeistert mitgesungen wird; dass diese Band mit einer vier Jahre alten Coverversion die weltweiten Spotify-Charts anführen würde; dass sie bei Jimmy Fallon und „Saturday Night Live“ auftreten und für die relevantesten Musikfestivals beiderseits des Atlantiks gebucht werden würden.
Kurzum: So etwas hatte es in der 65-jährigen Geschichte des ESC (über die Ende Februar ein sehr lesenswertes Buch erscheint) noch nicht gegeben. Die Band hat den ESC ins 21. Jahrhundert katapultiert (worauf wir bei der neuen Bundesregierung noch warten) und ist nebenbei die erste mir bekannte Rockband seit vielen, vielen Jahren, die derart durchstartet.
So. Und jetzt stellen Sie sich bitte vor, Sie hätten zwei Wochen lang jeden Morgen zehn Meter von diesen soon to be-Megastars entfernt gefrühstückt und wären nicht einmal auf die Idee gekommen, nach einem gemeinsamen Selfie zu fragen!

9. Weezer
Was Taylor Swift kann, können Weezer schon lange: Zwei Alben in einem Jahr zu veröffentlichen passiert der Band jedenfalls nicht zum ersten Mal. Im September 2019 hatten sie ihr 14. Album „Van Weezer“ (Crush Music/Atlantic; Apple Music, Spotify) angekündigt, das im Mai 2020 erscheinen sollte. Wie so vieles andere wurde auch der Release dieses Albums verschoben — das Tribut an die großen Hair-Metal-Bands (das durch den zwischenzeitlichen Tod von Eddie van Halen eine zusätzliche Ebene erreicht hatte) erschien im Mai 2021 und war okay, aber nicht atemberaubend.
Interessanter war „OK Human“ (Crush Music/WEA; Apple Music, Spotify), das zweite Album, das Weezer zwischen der Fertigstellung und dem verspäteten Release von „Van Weezer“ aufgenommen hatten (was es so gesehen zu ihrem 15. Album macht, chronologisch aber natürlich „Van Weezer“ nach hinten drängt und somit offiziell Nr. 14 ist — aber die Beatles hatten „Abbey Road“ ja auch nach „Let It Be“ aufgenommen und vor diesem veröffentlicht).
Es wurde ohne elektrische Gitarren, aber mit einem 32-köpfigen Orchester eingespielt, was ihm den Sound eines Unplugged-Albums (oder von Ben Folds’ „So There“) verleiht, nur dass es zwölf brandneue Songs sind und keine neu eingespielten Hits. Es klingt also wärmer, enthält aber ansonsten klassische unwiderstehliche Weezer-Melodien und clevere Texte über das Leben in Zeiten von Gentrifizierung, Smartphones und unzähligen Zoom-Calls. Wenn „New Yorker“-Cartoons Musik wären, wären sie dieses Album!

8. Danger Dan
Ich hatte natürlich noch nie bewusst irgendwas von der Antilopen Gang gehört, als sich mein halber Freundeskreis überschlug, ich müsse jetzt unbedingt diese ZDF-Sendung schauen, in der ein Mann namens Danger Dan, der Mitglied besagter Hip-Hop-Band sei, gemeinsam mit Thees Uhlmann durch die Gegend ziehe und am Klavier seine neuen Solo-Songs spiele. Oooookay! Nicht alle Songs haben mich abgeholt, aber „Lauf davon“ ist natürlich ein Meisterwerk der Melancholie; gleichzeitig Punk und Romantik, als hätte sich Rio Reiser mit Igor Levit zusammengetan. „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ war mir erst einen Tacken zu Jan-Böhmermann-Twitter-ironisch, aber die dritte und vierte Strophe haben mich mit offenem Mund vor dem Fernseher sitzen lassen: Wie er da mit Ken Jebsen, Jürgen Elsässer, Alexander Gauland, AfD, rassistischen Polizisten abrechnet, so etwas hatte ich im Pop selten gehört.
Und dann kam „Eine gute Nachricht“ raus: Ein unendlich poetisches, komplett unpeinliches Liebeslied; eines der besten, das je geschrieben wurde — und das auf Deutsch!
Zum Album, das auch „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ (Antilopen Geldwäsche; Apple Music, Spotify) heißt, habe ich ein gespaltenes Verhältnis – manche Lieder sind mir zu „lustig“, auf ganze Länge ist es mir ein bisschen zu monoton, aber das ist eigentlich egal: Schreibt mal drei Songs, die so unterschiedlich reinhauen, und dann reden wir weiter!

7. Big Red Machine
Beim ersten Album war Big Red Machine noch die Mini-Supergroup von Justin Vernon (Bon Iver) und Aaron Dessner (The National) gewesen, in der Zwischenzeit hatten die beiden mit Taylor Swift für deren Meisterwerke „Folklore“ und „Evermore“ zusammengearbeitet und so kam die Präsidentin des Pop fürs zweite Album „How Long Do You Think It’s Gonna Last?“ (Jagjaguwar/37d03d; Apple Music, Spotify) zum Gegenbesuch vorbei und traf dort unter anderem auf Anaïs Mitchell, die Fleet Foxes (was ist eigentlich aus denen geworden?!), Sharon van Etten, Ben Howard und andere, die gemeinsam mit Vernon und erstaunlich viel Dessner, der zuvor noch nicht groß als Sänger in Erscheinung getreten war, melancholisch-hymnische Lieder anstimmten. (Dass es sich die Band erlauben kann, den gemeinsamen Song mit Michael Stipe gar nicht erst aufs Album zu packen, sagt schon viel aus!)
Nun läuft ein Album bei so vielen Stimmen schnell Gefahr, eher nach Mixtape zu klingen, aber was heißt hier „Gefahr“?! Wenn es ein so stimmungsvolles, in sich geschlossenes Mixtape ist, wer würde sich da beschweren?!

6. The Wallflowers
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Wallflowers neun Jahre nach ihrem letzten Album (das neben einer The-Clash-Huldigungs-Single nicht so richtig viel zu bieten hatte) und nach dem Ausstieg der letzten Bandmitglieder, die nicht Jakob Dylan hießen, überhaupt noch mal ein Album aufnehmen würden. Doch nach ein paar Vorab-Singles war „Exit Wounds“ (New West Records/LLC; Apple Music, Spotify) da und schloss eigentlich nahtlos an ihr 25 Jahre altes Erfolgsalbum „Bringing Down The Horse“ an: Americana-Musik über die ganz großen Themen, bei vier Songs grandios unterstützt durch Shelby Lynne.
Es ist Musik für Männer in Chucks und Karohemden, die langsam, aber sicher auf die 40 zugehen (oder schon lange darüber hinaus sind), aber in Zeiten wie diesen ist es toll, Musik zu haben, die wie ein großer Bruder oder ein junger Onkel zu einem kommt und sagt: „Hier ist ein Bier für Dich, mein Pick-Up-Truck steht vor der Tür — jetzt fahren wir in den Sonnenuntergang, schnacken ein bisschen und alles wird gut!“

5. Wild Pink
Es war wenig überraschend „All Songs Considered“, wo ich erstmals auf die Musik von Wild Pink traf. „A Billion Little Lights“ (Royal Mountain Records; Apple Music, Spotify), das dritte Album der New Yorker Band, erwies sich als die perfekte Frühlingsmusik: ein bisschen pastellig-optimistisch, ein bisschen schläfrig-melancholisch; zwischen Joshua Radin, Rogue Wave und Stars; organisch, mit gelegentlichen Country-Gitarren und cleveren Texten.
Vor zwölf, dreizehn Jahren wäre solche Musik bei „Scrubs“ oder in iPod-Werbespots gelaufen, heute hört man sie allenfalls noch auf dem Haldern-Pop-Festival — wenn es denn stattfindet.

4. Vanessa Peters
Lustig, wie man 2021 Musik entdeckt: Instagram hatte mir im Frühjahr das Video zu einem Song namens „Crazymaker“ als Werbung ausgespielt und ich hab den Song sofort auf meine Playlist gepackt. Im Herbst hab ich dann mal nachgeschaut, was die Sängerin dahinter noch so macht.
Hinter dem Namen „Vanessa Peters“ vermutete ich – deutsch ausgesprochen – erst mal eine Frau, die in irgendeiner frühen DSDS-Staffel mal den dritten Platz belegt hatte und/oder mal Vorletzte beim ESC wurde (man kann ihn aber bequem amerikanisch aussprechen, denn sie stammt aus Texas), und das Roy-Lichtenstein-für-Arme-Cover ihres Albums „Modern Age“ (Idol Records; Apple Music, Spotify) hat mich zunächst auch etwas abgeschreckt.
Oberflächlicher Scheiß, denn die Musik ist toll: Als hätten Aimee Mann, Suzanne Vega und Kathleen Edwards eine Supergroup gegründet. Sehr amerikanisch, obwohl die backing band komplett aus Italienern besteht.

3. Emily Scott Robinson
Ich hatte noch nie von Emily Scott Robinson gehört, als ihr drittes Album „American Siren“ (Oh Boy Records; Apple Music, Spotify) – natürlich – bei „All Songs Considered“ vorgestellt wurde. Das bittersüße Trennungslied „Let ’Em Burn“, das dort lief, repräsentiert das Album als Pianoballade musikalisch einerseits nicht so richtig, andererseits passt es aber auch perfekt in dieses Album mit seinen oft reduzierten Country- und Folksongs mit klugen und gesellschaftskritischen Texten.
Es ist das Album, das Kacey Musgraves 2021 leider nicht gemacht hat, es erinnert an Lori McKenna und Hem und es ist einfach wunderschön!

2. Meet Me @ The Altar
Hat jemand „queer POC all-girl pop-punk band“ gesagt? Count me in!
Natürlich war es auch wieder „All Songs Considered“, wo ich zum ersten Mal von Meet Me @ The Altar gehört habe. Musikalisch kann man sie als Teil des 2000er-Revivals, irgendwo zwischen blink-182 und Paramore, Taking Back Sunday und Avril Lavigne, ansehen (und sie sind eine der wenigen jungen Bands, die beim großen Zu-schön-um-wahr-zu-sein-Emo/Pop-Punk-Festival „When We Were Young“ in Las Vegas spielen werden), aber die Texte sind irgendwie reflektierter als die unserer damaligen Mitgröl-Hymnen.
Das ist die Energie, die ich im vergangenen Jahr gebraucht habe! Nach ihrer EP „Model Citizen“ (Fueled By Ramen; Apple Music, Spotify) hat die Band für 2022 ein Album angekündigt, was bei so jungen Leuten dann doch überraschend ist. Und schön.

1. Sir Simon & Burkini Beach
„Hä? Hast Du jetzt zwei Acts auf Platz 1 gepackt, Lukas?!“
Jau. We make up the rules as we go along.
Aber der Reihe nach: Sir Simon ist natürlich Simon Frontzek, der unter diesem Namen schon 2008 und 2011 zwei ganz tolle Indiepop-Alben veröffentlicht hatte, seitdem aber nichts eigenes mehr. Er spielt seit 2019 in der Band von Thees Uhlmann — und zwar zusammen mit Rudi Maier alias Burkini Beach. Als sie 2020 überraschend viel Zeit hatten, haben die beiden einfach zusammen zwei Alben geschrieben und aufgenommen: eben eins für Simon („Repeat Until Funny“, Comfort Noise; Apple Music, Spotify) und eins für Rudi („Best Western“, Comfort Noise; Apple Music, Spotify). Die sind im August am gleichen Tag erschienen und der letzte Song auf beiden Alben ist jeweils – und ich bin mir sehr sicher, dass es diese geniale, eigentlich total naheliegende Idee in der Musikgeschichte bisher noch nie gegeben hat – „Not Coming Home“, ein Duett zwischen den beiden.
Man kann diese Alben also kaum getrennt voneinander beurteilen — und das muss man auch gar nicht, denn sie sind beide wunderschön geworden und haben mich ab August durchs Jahr getragen. „Repeat Until Funny“ klingt, um mal meinen besten Freund zu zitieren, ein bisschen wie ein bisher unveröffentlichtes Weakerthans-Album, „Best Western“ wie eins von Death Cab For Cutie (und wir meinen nicht, dass es wie ein Abklatsch klingt, sondern dass da zwei Menschen, die Musik wirklich lieben und verinnerlicht haben, im Äther der Musik ihre eigenen Sprachen und Stimmlagen gefunden haben und diese jetzt mit uns teilen). Auch die Texte sind wirklich sehr klug und lustig, was ja bei deutschen Acts, die auf Englisch singen, jetzt auch nicht unbedingt immer der Fall ist. Also: Ja, es sind wirklich zwei gute Alben und weil man sie nicht trennen kann, stehen sie beide hier vorne! („Vorne“ im sonst eher ungebräuchlichen Sinne von „ganz am Ende des Textes“, aber eben auf Platz 1. Hier muss dieser Blog-Eintrag enden.)

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Fernsehen Musik

Peter Urban FAQ 2021

Heute Abend ist es wieder soweit: Mit der Ausstrahlung des 1. Halbfinals (21 Uhr, One) beginnt auch im Fernsehen der Eurovision Song Contest 2021.

Der Blick aus der deutschen Sprecherkabine beim ESC 2021.

Ich sitze seit 2013 neben Peter Urban in der deutschen Sprecherkabine und assistiere ihm bei den Vorbereitungen und während der Sendung. Und weil in den letzten Jahren auf den diversen Social-Media-Plattformen verschiedene Fragen immer wieder gestellt wurden, habe ich diese einfach mal gesammelt und beantwortet.

Good evening, Europe! Here are the results for the Peter Urban FAQ:

Was macht Peter Urban den Rest des Jahres?
Er moderiert die Musiksendung “NDR 2 Soundcheck — Die Peter-Urban Show” und seit Anfang des Jahres den Musik-Podcast „Urban Pop“.

Wann geht Peter Urban in Rente?
Am 26. Juni 2013 wurde Peter beim NDR offiziell in den Ruhestand verabschiedet. Seitdem ist er als freier Mitarbeiter weiter für den Sender tätig, moderiert seine Radiosendungen, den Podcast und kommentiert den ESC.

Was weiß Peter Urban überhaupt von Musik?
Nun: Er hat seine Doktorarbeit über Texte in der Rockmusik verfasst („Rollende Worte – Die Poesie des Rock“, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt, 1979), arbeitet seit mehr als 50 Jahren als Musikjournalist und spielt seit über 40 Jahren in der Band Bad News Reunion.

Liest Peter Urban auf Twitter mit?
Nein. Während der Show hat er für sowas gar keine Zeit. Allerdings twittere ich auf meinem Account live aus der deutschen Sprecherkabine und werfe dabei auch ein Auge auf andere Tweets.
Wenn Peter Urban etwas Ähnliches sagt, wie gerade jemand auf Twitter geschrieben hat, ist das Zufall: manche Kommentare sind eben naheliegend, die meisten von Peters Texten werden aber schon nach den Proben und vor der Liveshow geschrieben und ausgedruckt.

Hat Peter Urban einen Twitter-Account?
Ja, Peter ist auf Twitter. Und auf Instagram. (Allerdings ist er während der Shows natürlich beschäftigt.)

Warum ist Peter Urban dieses Jahr nicht in Rotterdam?
Peter gehört mit Blick auf eine mögliche Covid 19-Infektion zur Hochrisikogruppe und verfügt noch nicht über einen vollständigen Impfschutz. Um keine unnötigen Risiken einzugehen, wird er die drei Sendungen deshalb auf eigenen Wunsch ausnahmsweise von Hamburg aus kommentieren. Wir stehen aber auf verschiedenen Kanälen in engem Austausch und ich fungiere sozusagen als seine Augen und Ohren in der Ahoy Arena.

Kann Peter Urban nicht mal die Klappe halten?
Was ist das denn für ‘ne Frage? Aber wenn Sie die Sendungen ohne Kommentar verfolgen wollen, können Sie das z.B. auf eurovision.de oder eurovision.tv tun.

Der Eurovision Song Contests 2021 aus Rotterdam — die Sendetermine:

  • Dienstag, 18. Mai, 21 Uhr: Erstes Halbfinale auf One, in der ARD-Mediathek und auf eurovision.de
  • Donnerstag, 20. Mai, 21 Uhr: Zweites Halbfinale auf One, in der ARD-Mediathek und auf eurovision.de
  • Samstag, 22. Mai, 20.15 Uhr: Die große Pre-Show im Ersten, ab 21 Uhr dann das Finale, live aus Rotterdam (außerdem in der ARD-Mediathek, auf eurovision.de, im Auslandsprogramm der Deutschen Welle und als „Social-TV“ auf One)
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Unterwegs

Via con me

Mein Großvater war nach einem ärztlichen Behandlungsfehler und einer Nahtoderfahrung immer noch nicht aus dem Krankenhaus entlassen, weswegen die zwei Plätze einer seit langem geplanten Pilgerreise in der Karwoche an meinen Vater und mich fielen. Am 7. April 2001 flogen wir von Düsseldorf nach Rom-Fiumicino, am nächsten Morgen standen wir auf dem Petersplatz, um einer der letzten Palmsonntagsmessen von Papst Johannes Paul II. beizuwohnen. Ich bin das Kind einer Mischehe: evangelisch getauft und konfirmiert, aber durch meinen väterliche Linie auch immer wieder in der katholischen Kirche gewesen, natürlich nie bei der Kommunion. Aus einer merkwürdigen Laune heraus, die exakt zu gleichen Teilen aus Respekt (es gibt ja wirklich mindestens 2000 Dinge, die man an der Katholischen Kirche kritisieren kann, aber: Show können sie!) und Trotz (genau der Papst, dem die Jugendlichen aus Mexiko, Kroatien und Argentinien um uns herum zujubelten, würde neben vielen anderen Dingen niemals erlauben, dass ich als Protestant dieses Sakrament empfange) bestand, beschloss ich an jenem Morgen: Wenn ich jemals zur Kommunion gehe, dann jetzt und hier!

Untergebracht war unsere Reisegruppe in einem Gästehaus auf einem Hügel westlich des Vatikans. Die einzigen anderen Menschen unter 40 waren zwei Geschwister, die ungefähr in meinem Alter waren und mit ihren Großeltern reisten. Weil dies keine Nancy-Meyers-Komödie war, sondern mein Leben, entspann sich weder mit dem Mädchen noch mit dem Jungen eine wie auch immer geartete Romanze.

Der Reiseleiter, ein Dr. Frenger, war Theologe und Kunsthistoriker, sah aus wie die Zeichentrickversion von Inspektor Clouseau und litt sichtlich unter dem Desinteresse der leicht trutschigen Mutter-Tochter-Gespanne, die den Großteil unserer Reisegruppe ausmachten. Weil wir das eher deutsch-rustikal geprägte Mittagessen, zu dem die Gruppe jeden Tag zur Herberge zurückgekarrt wurde, lieber zugunsten eigener Erkundungen und lokaler Küche ausfallen lassen wollten, erkannte er in uns alsbald Verbündete, denen er sich anvertrauen konnte: „Wissen Sie, die meisten Menschen hätten es gerne, wenn man ihnen sagt: ‚Das ist das Kolosseum, das ist alt, das ist eine Ruine und das ist berühmt. Darin waren die wilden Tiere, die Gladiatorenkämpfe und die Christenverfolgung. Gehen Sie mal rum und sehen sich das an. Dahinten gibt es Toiletten und dort ein Café!‘“ Mein Vater revanchierte sich mit der Anekdote, wie er gemeinsam mit einem Freund auf einer Studienreise im Jahr 1981 das damals in Reparatur befindliche Reiterstandbild Marc Aurels auf dem Kapitolsplatz nachgestellt habe, was den beiden ein wenig Ärger mit den Carabinieri, aber auch eine gewisse Popularität in den Fotoalben japanischer Touristen eingebracht hätte.

Ich hatte mir ein kleines Reclamheft mit englischsprachigen Gedichten als Reiselektüre mitgenommen und kam mir, wenn ich abends in der Außengastronomie einer Trattoria, zwischendurch am Rotwein nippend, darin blätterte vor wie Patti Smith, Oscar Wilde oder Christian Kracht. An einem Abend ließen wir uns von einem 70-jährigen Kellner, der einst in Remscheid gearbeitet hatte, wortreich in ein Restaurant quatschen, das die Legende, wonach man in Italien „einfach überall phantastisch“ essen könne, eindrucksvoll Lügen strafte, gleichzeitig aber die neue Grundregel aufstellte, in Zukunft jede Gaststätte sofort wieder zu verlassen, in der deutschsprachige Speisekarten vorgehalten werden.

Ich weiß nicht, wie viele Kilometer wir jeden Tag abgerissen haben, und ich weiß ehrlich gesagt auch nicht mehr, was wir an diesen Tagen alles gesehen haben. Irgendwann fangen sehr alte Bauwerke und Plätze, so bedeutsam sie auch sein mögen, an, einander zu gleichen. Überall gab es viele freilaufende Katzen, Eisdielen und fliegende Händler, die laminierte „Dragonball“-Motive, Kolosseen aus Gips und Bronzeimmitatsfiguren feilboten, denen Feuer aus dem Intimbereich steigen konnte. Ich stand an der Stelle, an der Aldo Moro ermordet im Kofferraum eines roten Renault 4 aufgefunden worden war, und sah den weltschlechtesten Elvis-Imitator, einen Amerikaner in einem „Bowling is not a crime“-T-Shirt, Pantomimen, Straßenmaler und natürlich eine Indiotruppe, die den alten Italoschlager „El Cóndor Pasa“ über die Piazza Navona blies. Ich machte also zum ersten Mal eine Erfahrung, die sich im weiteren Verlauf meines Lebens in New York, London und Amsterdam bestätigen sollte: Man kann sich solchen medial und kulturell überbelichteten Orten nicht nähern, ohne sich heillos zwischen den mitgebrachten Erwartungen und den vor Ort festinstallierten Klischees zu verheddern; man muss das dann einfach annehmen und sich seine eigene Erinnerungen prägen. Ich war bis heute nicht in Paris.

Natürlich hatte ich mir extra für die Reise ein Mixtape aufgenommen, das außer Morcheebas „Rome Wasn’t Built In A Day“ nicht viel Bezug zur ewigen Stadt hatte. Dafür muss ich seitdem bei „Overload“ von den Sugababes immer daran denken, wie wir bei der Besichtigung der Caracalla-Thermen in einen charmanten Landregen gerieten. Am dritten Abend saß am Nebentisch der Hamburger Regisseur Fatih Akin und berichtete seinem italienischen Begleiter auf Englisch von seinem nächsten Filmprojekt — ich kam mir als 17-jähriger Kino-Fan wahnsinnig investigativ vor, hatte nur leider damals keinen Kanal, auf dem ich diesen brandheißen Gossip hätte teilen können. Als sich Akin eine Zigarette anzündete und erst dann nach einem Aschenbecher umschaute, sah ich meine Chance gekommen, stellte ihm hektisch ein Exemplar von einem anderen Nebentisch vor die Nase und verwickelte ihn so in ein sehr herzliches, kurzes Gespräch, in dessen Verlauf er mich zu den Dreharbeiten einlud. Ich habe erst sehr viel später verstanden, dass ich ihm in diesem Moment vielleicht wenigstens meine Kontaktdaten hätte aufschreiben sollen. Schließlich wurde „Solino“ nämlich zu weiten Teilen in Duisburg und damit quasi in der Nachbarschaft gedreht.

An Gründonnerstag, also kurz bevor es mit den Feierlichkeiten so richtig losging, verließen wir die Stadt. In besonderer Erinnerung blieb mir noch, dass der Wirt in dem kleinen Bistro, wo wir die letzte Cola tranken, sowohl das Glas als auch die Zitronenscheibe kurz unter fließendem Wasser abspülte. Warum auch immer. Den Ostersegen des Papstes holten wir uns dann wieder vor dem heimischen Fernseher ab — da gilt er ja auch, wenn man’s live guckt, sagt meine Oma.

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Literatur

Die Feuerwehr Bochum stoppt Robert Frost im Weitmarer Holz

Wenn es geschneit hat, sollte man besser nicht in den Wald gehen — das gilt auch für gefeierte Dichter:

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Musik

Songs des Jahres 2020

Hier Einstiegstext: Was für ein Jahr, Musik als Trost und Eskapismus, streng subjektiv, Stand 16:04, viel Spaß!

25. Janou – Sweet Love
Was für ein Geschenk das ist, talentierten Menschen dabei zusehen zu dürfen, wie sie ihre Kunst verfeinern! Ich kenne Janou jetzt schon seit fast zehn Jahren und habe erlebt, wie sie rumorende Kneipen zum Schweigen brachte, wenn sie ihre Stimme zur Akustikgitarre erhob. Seit einiger Zeit bekommt sie dabei elektronische Unterstützung und gleich die allererste Single des Duos klingt, als hätte sie 1994 auf der „Protection“ von Massive Attack dieses merkwürdige „Light My Fire“-Cover ersetzen sollen:

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24. Holly Humberstone – Deep End
Der Nachteil, wenn einem Spotify einfach so ein Lied vorschlägt, in das man sich dann verliebt, ist ja, dass man ihn manchmal ein Jahr lang hört, ohne irgendetwas über die Person zu wissen, die ihn singt. Andererseits haben wir ja im Studium gelernt, Biographie vom Werk zu trennen, und so können Formatradio-Moderator*innen gerne aus dem Wikipedia-Beitrag von Holly Humberstone vorlesen (als ob!) — ich bleibe einfach ganz ergriffen von diesem todtraurigen, aber irgendwie auch optimistischen Song:

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23. lovelytheband – Loneliness For Love
Erinnern Sie sich noch, als The Killers neu waren und wahlweise dafür gescholten oder gepriesen wurden, dass sie wie Joy Division, New Order und Duran Duran klangen? Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir es alle geschafft haben, so alt zu werden, dass junge Bands wie The Killers klingen! lovelytheband ist nun wirklich kein besonders gelungener Bandname, ich habe keine Ahnung, wie der Rest ihres Schaffens klingt, aber dieser 80’s pop song (und besonders sein Synthesizer-Riff) ist schon sehr chic:

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22. Darlingside – Green + Evergreen
„Fish Pond Fish“, das aktuelle Album von Darlingside, hat es knapp nicht in meine Top 10 geschafft — ich möchte es aber dennoch allen ans Herz legen, die opulent arrangierten Folk-Pop lieben, bei dem trotzdem kein Ton zu viel ist. Wer Fleet Foxes oder The Low Anthem mag, wird auch Darlingside zu schätzen wissen!

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21. Jacob Collier feat. Mahalia and Ty Dolla $ign – All I Need
Der Name Jacob Collier ist mir im letzten Jahr immer wieder in unterschiedlichsten Zusammenhängen untergekommen: Als Songwriter für u.a. Coldplay; als Testimonial, das in den Werbeblöcken auf CNN erzählt, welche Auswirkungen der Lockdown auf Musiker*innen hat; und als Gast in US-Late-Night-Shows. Ob er auch in Deutschland im Radio läuft? Keine Ahnung, ich hör ja kaum welches (eine kurze Recherche ergab allerdings, dass er zumindest innerhalb der letzten Woche nicht auf 1Live gespielt wurde). „All I Need“ ist ein R’n’B-Song, der immer wieder Haken schlägt und in Richtungen geht, die man einen Beat zuvor nicht erwartet hätte. Cool, mit Verweisen auf die Musikgeschichte und eigenem Sound. Zugegeben: Das ist zu viel fürs deutsche Formatradio!

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20. Agnes Obel – Island Of Doom
„Kate Bush“. Da wir das jetzt hinter uns haben, können wir uns ganz auf diesen … nun ja: ätherischen Popsong einlassen, in dem die Stimme von Agnes Obel in vielen Schichten über ein tänzelndes Klavier weht. Einfach mal durchatmen war 2020 gar nicht so leicht, dieser Song konnte dabei helfen. Und: Ja, so coole Sachen bekommen Sie im ARD-Morgenmagazin zu sehen, für das ich unter anderem arbeite!

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Print Digital

Blogging like it’s 2007

Nächste Woche wird dieses Blog 14 Jahre alt. Gerade in der Anfangsphase, als hier noch richtig viel los war, es ein Zusammengehörigkeitsgefühl in der damals sogenannten Blogosphäre gab, und wir alle die Hybris hatten, zu glauben, Blogs könnten den Journalismus verändern (womöglich gar zum Besseren), habe ich mich öfter darüber aufgeregt, dass Online-Medien über Blogs schrieben, ohne sie zu verlinken (und das in einem Tonfall, der sich im Nachhinein allenfalls mit „jugendlicher Übermut“ erklären lässt).

Inzwischen sind „Blogger“ Menschen, die auf Instagram teure Uhren in die Kamera halten; der Journalismus hat ungefähr alles, was am Internet immer schon schlecht war, übernommen; aber immerhin findet man inzwischen selbst in vielen Print-Medien QR-Codes, mit deren Hilfe man auf im Text erwähnte Internetseiten gelangen kann.

So gesehen ist der Text, den der „Spiegel“ vor zwei Wochen über eine Ausstellung über die First Ladies der US veröffentlichte, ziemlich oldschool:

Sie war im November kurz zu sehen, bevor das Museum wegen der Pandemie schließen musste. Die Onlineversion der Schau belegt die Aktualität von Gebräuchen und Phänomenen aus nur vorgeblich alten Zeiten.

Japp: Da wird auf die Onlineversion einer Ausstellung verwiesen und es gibt keinen QR-Code und keine URL, die dorthin führt.

„Die Leser*innen in Deutschland könnten die Ausstellung ja schließlich auch nicht sehen, wenn sie im Museum hängt“, möchte mein 23-jähriges Ich ergänzen.

Mein 37-jähriges Ich ist einfach so nett und schreibt: „Every Eye Is Upon Me: First Ladies of the United States“ ist auf der Seite der National Portrait Gallery zu sehen.

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Musik Leben

Was den Himmel erhellt

Ich erinnere mich, wie ich am ersten Arbeitstag des Jahres 2006 die Post in der Musikredaktion von CT das radio öffnete und darin die Promo für die neue Tomte-CD („Watermarked #89“) lag. Wie ich die CD am Abend zum ersten Mal hörte und wusste, dass ich viel Zeit mit diesem Album verbringen würde.

Ich erinnere mich, wie ich Thees Uhlmann zum Interview im Düsseldorfer Zakk traf. Wie ich ihm unbeholfen das Demo einer befreundeten Band in die Hand drückte, das ich eigentlich für Simon Rass vom Grand Hotel van Cleef mitgebracht hatte, der aber gar nicht vor Ort war, und wie Thees zum ersten Mal die Kilians hörte.

Ich erinner mich, wie ich um vier Uhr morgens in Dinslaken aufstand und zum Düsseldorfer Flughafen fuhr, um nach Nürnberg zu fliegen (mein allererster Flug ohne Eltern!). Wie ich mit dem Zug nach Erlangen weiterfuhr, um die Kilians zu treffen, die jetzt, acht Wochen nach dem Interview, bei Tomte im Vorprogramm spielten. Ich stellte mich als Backliner und Roadie vor, bekam meinen eigenen Backstage-Pass und vergaß direkt am ersten Abend den Teppich, der auf der Bühne unter Micka Schürmanns Schlagzeug liegen sollte, in einer Ecke des E-Werks.

Ich erinnere mich daran, Tomte vier Tage hintereinander live zu sehen, die neuen Songs zu hören, die ich schon in- und auswendig kannte, und zu spüren, wie diese Band auf der Welle der Emotionen surfte, die ihnen entgegengebracht wurde. An die Zeile „Und du sagtest: Da ist zu viel Krebs in deiner Familie“, die mir jeden Abend die Tränen in die Augen trieb, weil mein geliebter Großonkel gerade im Krankenhaus lag und vier Monate später an dieser Arschloch-Krankheit starb. An Soundchecks, Backstageräume und den Deckel einer Rohlingspindel, aus dem Thees Wodka-O trank, bevor ich ihn auf die Stirn küsste.

Ich erinnere mich an zahlreiche Festivals im Sommer, auf denen ich Tomte immer wieder live sah, und wie wir beim Essen Original so nass wurden, dass das Wasser beim Gehen aus unseren Schuhen schwappte.

Ich erinnere mich, wie ich für CT eine eigene Version von „New York“ zusammenschnitt, weil die Albumversion zu lang war, aber auf der Singleversion das tolle Intro fehlte. (Ich glaube, das ist illegal, und die Band und ihr Produzent Swen Meyer könnten mich wahrscheinlich heute noch verklagen.)

Ich erinnere mich, wie ich im September für drei Monate zu meiner amerikanischen Familie nach San Francisco flog und dachte, dass es ja ein merkwürdiger Zufall ist, dass Thees mit „Walter & Gail“ ein Lied über seine amerikanische Familie geschrieben hatte.

Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Onkel nach New York flog, das damals wirklich noch die „Stadt mit Loch“ war. Dass ich am Chelsea Hotel vorbeiging und wir am Sonntagnachmittag durch den Central Park spazierten und bei Sonnenuntergang das Reservoir erreichten und wie ich dachte, dass manchmal einfach alles einen Sinn ergibt.

Ich erinnere mich, wie ich im Dezember wieder in meinem WG-Zimmer im Bochumer Studentenwohnheim saß, die Platte und „New York“ in all meinen Jahresbestenlisten auf Platz 1 setzte und dachte, dass es wahrscheinlich nie wieder ein Album geben würde, das so eng mit meinem Leben verbunden ist — und dass das auch okay sein würde.

Heute vor 15 Jahren erschien „Buchstaben über der Stadt“ von Tomte. L.Y.B.E.

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Alben des Jahres 2020

Okay, ich bin spät dran — andererseits hat 2021 ja nicht am 1. Januar begonnen, sondern fast drei Wochen später. Und: Ja, ich hatte letztes Jahr schon gesagt, dass ich vielleicht nie wieder eine Liste mit den „Alben des Jahres“ machen würde, weil das Format Album zunehmend an Bedeutung verliert; weil manche Acts zum Beispiel gar keine Alben mehr machen — oder Leute wie Taylor Swift halt gleich zwei, von denen man dann auch irgendwie nicht so recht weiß, wie man diese behandeln soll. Aber es war so ein seltsames Jahr, dass ein wenig Rückbesinnung auf Altbewährtes psychologisch sinnvoll sein kann.

Wald voller Bäume

Also dann: Zum wirklich allerletzten Mal — meine liebsten Alben eines Kalenderjahres!

10. Sevdaliza – Shabrang (Spotify, Apple Music)
Der Musik von Sevdaliza bin ich zum ersten Mal im Februar 2020 bei „All Songs Considered“ begegnet und erstmal abgetaucht in diese etwas ungewohnten Klangwelten. Als dann im August das zweite Album der iranisch-niederländischen Musikerin erschien, war „ungewohnt“ keine Kategorie mehr, in der irgendjemand gedacht hat. Das Internet bezeichnet die Musik als „Electronic, alternative R&B, trip hop, experimental pop, avant-pop“, aber manchmal hilft es ja, sich Sachen einfach anzuhören und darauf einzulassen.

9. Vistas – Everything Changes In The End (Spotify, Apple Music)
Wenn Stephen Thompson von NPR, ein Mann, dem ich in Sachen Musik blind vertraue, sagt, dass er seit langem kein Album mehr gehört habe, das so viele potentielle Hits enthalte; das klinge wie eine Mischung aus den Proclaimers, Andrew W.K. und Fountains Of Wayne und das eines seiner absoluten Lieblingsalben des Jahres sein werde, dann höre ich mir das natürlich an: „Everything Changes In The End“ von Vistas war dann tatsächlich eine einzige Sammlung großer, vor Freude fast platzender Power-Pop-Hymnen — in Sachen Spannungsbogen und Abwechslung war das ein bisschen öde, aber nachdem der Sommer 2020 fast ausschließlich in unserem eigenen Garten stattfand, denke ich bei diesen Songs eben nicht an Nachmittage im Stadtpark, Festival-Besuche (gut: ich bin eh zu alt für diesen Quatsch!) und abendliche Heimwege in kurzen Hosen, sondern an den Teil des Gartens hinter der Garage, den Teil des Gartens neben der Kellertreppe und – total crazy – den Ausflug zu Fuß zum Edeka.

8. Bruce Springsteen – Letter To You (Spotify, Apple Music)
Wenn man ein Album von Bruce Springsteen in seine Jahres-Top-10 packt, kann man eigentlich als nächstes an der Lesercharts-Wahl des deutschen „Rolling Stone“ teilnehmen, sich mit Lederjacke auf ein Motorrad setzen und schon mal den Termin für die nächste Vorsorge-Untersuchung beim Hausarzt machen! Aber wenn uns 2020 eines gelehrt hat, dann: Weniger Zynismus, bitte! (Und mehr Vorsorge-Untersuchungen!) Was können ich und motorradfahrende Rockmagazin-Leser über 60 denn dafür, dass der Boss auch nach all den Jahren so gute Alben aus dem Ärmel seiner Lederjacke schüttelt? Fast das ganze „Letter To You“ ist eine Feier von Musik, Optimismus und Durchhaltevermögen und es ist etwas überraschend, dass die Songs schon vor dem ganzen Scheiß geschrieben (drei sogar vor fast 50 Jahren) und mit der E Street Band aufgenommen wurden.

7. Touché Amoré – Lament (Spotify, Apple Music)
Wer wollte 2020 nicht am Liebsten einfach nur Schreien? Jeremy Bolm macht genau das — und er ist sehr gut darin. Irgendwie waren die ersten vier Alben von Touché Amoré an mir vorbeigegangen, obwohl sie eigentlich genau mein Ding hätten sein müssen. Jetzt aber: „Lament“. Musik, die klingt, als würde ich sie schon seit 20 Jahren im Herzen tragen, als hätte ich dazu schon in abgeranzten Clubs auf der Tanzfläche gestanden, meine Fäuste geballt, die Unterarme angewinkelt und dann sehr laut und emotional mitgebrüllt. Ich verspreche, ich werde es nachholen, sobald es möglich ist!

6. Circa Waves – Sad Happy (Spotify, Apple Music)
Wo wir gerade vom Format Album sprachen: „Sad Happy“ kam in zwei Teilen heraus — „Happy“ im Januar 2020, als die Welt, wie wir sie kannten, noch existierte, und man angesichts von sieben großartigen Songs schon mal nach Tourdaten Ausschau gehalten hat; „Sad“ an jenem 13. März, in dessen Verlauf Schulen und Kindergärten geschlossen, die Bundesliga ausgesetzt und generell die vorherige Normalität völlig abgeschaltet wurde. Nach der euphorischen, energiegeladenen ersten Hälfte passte der 2. Teil zur neuen Wirklichkeit (so, wie natürlich alles plötzlich irgendeine Bedeutung hatte): Ein bisschen mehr Melancholie, ein bisschen mehr Synthesizer, ein bisschen mehr Akustikgitarren. Die ersten sieben Songs waren plötzlich eine Erinnerung an eine andere Welt, das ganze Album blieb toll.

5. Darren Jessee – Remover (Spotify, Apple Music)
Darren Jessee begleitet mich mehr als mein halbes Leben: Erst als Schlagzeuger, Background-Sänger und Gelegenheits-Songwriter bei meiner ewigen Lieblingsband Ben Folds Five, dann als Sänger und Haupt-Bandmitglied von Hotel Lights, wo ich ein paar Mal mit ihm im E-Mail-Austausch stand, um die Musik der Band bei CT das radio zu spielen und sonstwie in Europa populär zu machen. „Remover“ ist Darren Jessees zweites Soloalbum und zählt mit zum Besten, was er je herausgebracht hat: Ein einfaches, reduziertes Folk-Pop-Album zwischen Elliott Smith und Monta, Neil Young und Wilco. Songs wie „Along The Outskirts“ und „Never Gonna Get It“ fühlen sich an wie die kraftvolle Umarmung eines alten Freundes (wenigstens glaube ich das, was weiß ich, wie sich Umarmungen anfühlen?!).

4. Kathleen Edwards – Total Freedom (Spotify, Apple Music)
2014 hatte sich Kathleen Edwards nach vier großartigen Alben und auszehrenden Touren durch die halbe Welt aus dem Musikgeschäft zurückgezogen und in ihrer Heimat einen Coffee Shop namens „Quitters“ aufgemacht. Nach Jahren der Stille und des Milchaufschäumens kehrte sie im vergangenen Jahr zurück und sang auf „Total Freedom“ zum Glück wieder wunderschöne, etwas melancholische Alternative-Folk-Songs über zwischenmenschliche Beziehungen, das Leben und den Ausstieg aus dem Business. Ich bin 2020 wirklich nicht viel Auto gefahren, aber wenn ich mich an unbeschwerte Stunden auf der Autobahn erinnere, dann mit diesem Album.

3. HAIM – Women In Music Pt. III (Spotify, Apple Music)
Natürlich hießen die ersten beiden Alben von HAIM nicht „Women In Music“, aber es war schon ein kluger, kleiner Gag der Schwestern-Band, das dritte Werk so zu benennen, ist es doch im besten Sinne eine konsequente Fortsetzung: Es groovt, die Drums scheppern ein bisschen und die Stimmen von Este, Danielle und Alana Haim harmonieren. Man hat das Gefühl, das eigene Leben würde ein bisschen glamouröser und kredibiler, wenn man diese Musik hört — Roséwave eben! Für mich war „Women In Music Pt. III“ der Soundtrack zu einem Samstagvormittag im Juni, den ich beruflich bedingt in Hamburg verbrachte und an dem ich zwei Stunden bei Sonnenschein (Hamburg!) durchs Schanzenviertel spazierte, was sich trotz Maskenpflicht in den Geschäften so sehr wie Urlaub anfühlte wie wenig anderes in 2020.

2. Gordi – Our Two Skins (Spotify, Apple Music)
Alle, wirklich alle Songs, die Sophie Payten alias Gordi vorab veröffentlicht hatte, hatten es auf meine Vorauswahl-Liste für die Songs des Jahres geschafft und ließen Großes erwarten. „Our Two Skins“ enttäuschte nicht: Vom zaghaften, ganz zerbrechlichen „Aeroplane Bathroom“ über das tänzelnde „Sandwiches“ bis zu den schwelgerischen „Volcanic“ (bei dem man am Deutlichsten hört, dass es mit dem Produzenten Chris Messina und dem Label Jagjaguwar einige Gemeinsamkeiten mit Bon Iver gibt) und “Extraordinary Life“ folgt hier wirklich ein unwahrscheinlicher Hit auf den nächsten. „Our Two Skins“ klingt, wie sich tiefes Durchatmen (was wir ja jetzt Dank der 2020 entdeckten Yoga-Videos und Meditations-Apps alle regelmäßig machen) anfühlt!

1. Taylor Swift – Folklore (Spotify, Apple Music)
Schon als ich „Folklore“ zum ersten Mal gehört habe, wusste ich, dass es eine besondere Beziehung sein würde zwischen mir und diesem Album. Taylor Swift hatte es im 1. Lockdown geschrieben und aufgenommen, keine 24 Stunden vor Veröffentlichung angekündigt — und schon beim ersten Hören war klar, dass sie gemeinsam mit ihren Co-Songwritern und Produzenten Aaron Dessner (The National, Big Red Machine) und Jack Antonoff damit schlichtweg ein Meisterwerk geschaffen hatte. Waren Taylor Swift mit modernster, aufwendigster Produktion schon zahlreiche instant classics gelungen, so katapultierte sie der eher reduzierte Sound von „Folklore“ in noch höhere Höhen. Endlich handelten die Texte mal nicht mehr nur davon, wie es ist, Taylor Swift zu sein, sondern sie erzählten kleine Geschichten — wobei, was heißt da „klein“?! „The Last Great American Dynasty“ ist eine great American novel in 3:51 Minuten; „Betty“ der beste Song, der je darüber geschrieben wurde, wie es ist, ein 17-jähriger Junge zu sein (Sorry, Travis!); „August“ klingt so sorglos, wie sich der gleichnamige Monat im Nachhinein fast anfühlte; „Epiphany“ bringt mich immer noch zum Heulen (oder zumindest dazu, tief durchzuatmen) und das Trennungs-Duett „Exile“ mit Justin Vernon von Bon Iver ist sowieso ein Lied, das einem einfach jedes Mal den Stecker zieht.
Seit Juli wache ich jeden Morgen mit einem neuen Ohrwurm auf — und es sind wirklich alle 16 Songs von „Folklore“ dabei (wahlweise gemeinsam oder anstelle des täglichen „Hamilton“-Ohwurms). Dieses Album hat mich durch die zweite Jahreshälfte begleitet wie sonst nur mein Kind und meine engsten Freund*innen. Etwa ab September war klar, dass „Folklore“ mein Album des Jahres werden würde — und dann haute Taylor Swift im Dezember, wieder mit minimaler Vorwarnung, einfach noch ein Album raus! „Evermore“ hätte mit seinen Kollaborationen mit HAIM, The National und abermals Bon Iver beste Chancen gehabt, ebenfalls in meinen Top 10 zu landen, aber ich hatte ja schon „Folklore“. I think, I’ve seen this film before. And I loved all of it.

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Das anderste Weihnachten aller Zeiten

Vor uns liegt ein Weihnachtsfest, das so anders ist, als wir es gewohnt sind — so zumindest der Tenor in Medien, Politiker*innen-Statements und persönlichen Gesprächen. Dabei ist „anders sein“ bei aller Tradition etwas, was Weihnachten ebenso ausmacht wie unverheiratete Großonkel. Klar: Alle glücklichen Weihnachtsfeste gleichen einander, aber wie viel Prozent Übereinstimmung braucht es analog zur DNA-Analyse in der Forensik, damit es ein Weihnachten „wie immer“ ist?

Da war das Jahr, wo ich mich an Heiligmorgen erbrach, nicht mit in die Kirche konnte und Familienessen und Bescherung auf der Couch verbrachte; das letzte Weihnachten in der alten Wohnung und das erste im neuen Haus. Das Jahr, in dem mein Großvater erklärte, dass es ihm zu anstrengend geworden sei, der Verteilung und Entpackung der Geschenke Dritter beiwohnen zu müssen, weswegen es ab da nur noch sorgsam beschriftete Kuverts mit Geldscheinen gab. Oder das letzte „richtige“ Weihnachten, so wie wir es gewohnt waren: drei Kinder, Mama und Papa und die drei Großeltern. Das war im Jahr 2011 und meinem Tagebuch entnehme ich, dass es schon damals „nicht mehr dasselbe“ war, weil der Gemeindepfarrer, der uns alle getauft und konfirmiert hatte, zwischenzeitlich in den Ruhestand gegangen war. Als mein Großvater im Jahr 2017 bei seiner alljährlichen Weihnachtsansprache auf die sonst übliche Schlussformel „… und hoffen wir, dass der Liebe Gott uns nächstes Jahr noch einmal an dieser Stelle hier zusammenführt“ verzichtete, wussten wir alle, dass es das letzte Weihnachtsfest mit ihm sein würde. Was niemand ahnen konnte (außer er selbst, womöglich): 96 Stunden später war er tot.

Für mich ist erst Weihnachten, wenn ich am Nachmittag des Heiligen Abends „Patience“ von Take That gehört habe — ein Song, der nun wirklich unter keinen Umständen ein Weihnachtslied ist. Der Grund dafür ist gleichermaßen banal wie magisch (also wie das Leben selbst): Ende 2006 lief die große Comeback-Single der einstigen Boyband im Radio rauf und runter — so auch auf der Rückfahrt vom Weihnachtsgottesdienst zu unserem Elternhaus im Radio. Ein Jahr später saßen wir Kinder gemeinsam in Mamas altem Ford Fiesta, fuhren wieder von der Kirche zu den Eltern und im Radio lief wieder dieser Song, was – angesichts einer fünfminütigen Autofahrt und einer selbst bei WDR 2 mehr als einstelligen Zahl von Liedern in den Rotationslisten – dann doch mindestens ein erstaunlicher Zufall war. In den Folgejahren ging ich auf Nummer Sicher, brachte den Song auf meinem iPhone mit nach Dinslaken und spielte ihn auf dem Weg von der Innenstadt nach Eppinghoven ab. Das ist vielleicht drei, vier Mal passiert und ich war über 20, als es begann, aber es ist mehr Weihnachtstradition als der Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, von dem ich noch nie in meinem Leben auch nur eine Minute gesehen habe.

Was ich meine ist: Weihnachten ist immer anders und im Grunde genommen dann auch immer ähnlich, weswegen Komödien über Familienweihnachten auch so gut funktionieren: Weil sie die freiwilligen und unfreiwilligen Rituale; die Freude und das Elend; die Wiederholungen, die alle so lange mit den Augen rollen lassen, bis sie nicht mehr stattfinden und die Augen fürderhin nicht mehr gerollt, sondern feucht werden; und den Versuch, Weihnachten „wie immer“ begehen zu wollen, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterbrechen und in der tragischen Pointe gipfeln, dass Weihnachten eben leider genauso wird wie immer.

Douglas Adams hatte in den 1980er Jahren die Idee, ein Computerprogramm zu entwickeln, das die stets deckungsgleichen Aussagen des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan von alleine reproduziert, mit dem Fernziel, irgendwann sämtliche wichtigen Politiker*innen durch Künstliche Intelligenzen zu ersetzen, die sich dann miteinander unterhalten. Adams konnte Donald Trump nicht vorhersehen, aber er hat im Grunde genommen Facebook und Twitter vorweggenommen, wo sich jede Menge Bots und einzelne verwirrte, einsame Seelen in einem fortwährenden Nicht-Dialog befinden. Aber wenn die Menschheit ausstürbe (ein Gedanke, der, bei Licht besehen, selten so naheliegend war wie im Jahr 2020), könnten Spotify-Playlisten, Streamingdienste und die zentralen Logistik-Programme der Backwaren-Industrie jährlich ein Weihnachtsfest emulieren. Roboter an verwaisten Produktionsstraßen würden sich mit Tassen voller Glühwein, auf denen „Weihnachtsmarkt Münster 1993“ steht und deren Henkel schon etwas beschädigt sind, zuprosten und sich – wo technisch möglich – gegenseitig unangemessen berühren, während Smart-Home-Geräte die Wohnungen in allen Farben des Regenbogens blinken lassen.

Und irgendwo würde eine Kaffeemaschine beseelt denken: „Alles wie immer!“

Ich wünsche Euch und Euren Lieben trotz allem frohe und besinnliche Weihnachten im kleinen Kreis, Gesundheit und uns allen ein besseres Jahr 2021!

Dieser Text erschien ursprünglich in meinem Newsletter “Post vom Einheinser”, für den man sich hier anmelden kann.

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Rundfunk Politik Gesellschaft

Germany’s Next Topvictim

Sie wollen sich nicht an Corona-Schutzmaßnahmen halten, glauben an Verschwörungstheorien und vergleichen sich mit Opfern des Nationalsozialismus: Mit den sog. „Querdenkern“ stimmt eine ganze Menge nicht.

Aber ist es klug, ihren wirren Ansichten so viel Aufmerksamkeit zu schenken? Warum wird eigentlich immer die NS-Zeit zu haarsträubenden Vergleichen herangezogen? Und was wären Vergleiche, die ein bisschen mehr Sinn ergeben? Ein paar Ideen dazu gibt es hier im Video:

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